Ausgabe #242 | 22. August 2024
Die Überdurchschnittlichen
Lake Wobegon in Minnesota ist ein kleiner Ort.
Er hat kaum 800 Einwohner*innen. Seine Entstehungsgeschichte ist schnell erzählt.
Gegründet wurde er im 19. Jahrhundert von einem Bostoner Dichter. Er kam im Gefolge einer Missionarin. Diese hatte von Gott die Eingebung erhalten, hier die Indianer*innen mittels eines Ausdruckstanzes zum Christentum zu bekehren, schließlich aber einen Trapper geheiratet.
Hieß der Ort zu Beginn noch „New Albion“, so wurde später der indianische Name des Sees übernommen, der so viel bedeutet wie „Wir saßen den ganzen Tag im Regen und haben auf euch gewartet“.
Die Bevölkerung von Lake Wobegon stammt überwiegend von Norweger*innen ab.
Und sie ist besonders.
Denn in Lake Wobegon sind „alle Frauen stark, alle Männer gutaussehend und alle Kinder überdurchschnittlich“.
Das schreibt zumindest der Schriftsteller Garrison Keillor. Und ja, Lake Wobegon ist eine Erfindung.
Der Ort existiert nur in seiner Fantasie – und in seinen zahlreichen „Geschichten aus Lake Wobegon“, die in mehreren Büchern gesammelt sind.
Im englischen Sprachraum sind diese Bücher recht bekannt. Bis zu uns hat es aber vor allem der „Lake-Wobegon-Effekt“ gebracht. Vor allem Psycholog*innen kennen ihn.
Er beschreibt die weitverbreitete menschliche Tendenz, die eigenen Leistungen und Fähigkeiten im Vergleich zu anderen zu überschätzen.
Es handelt sich dabei um eine so genannte selbstwertdienliche Verzerrung (im englischen auch self-serving bias). Menschen neigen dazu, Erfolge den eigenen Fähigkeiten und Misserfolge eher äußeren Ursachen zuzuschreiben.
Den Lake-Wobegon-Effekt haben wir möglicherweise alle schon einmal verspürt.
Eine kanadische Studie hat beispielsweise gezeigt, dass die Mehrzahl der Autofahrer*innen überzeugt ist, besser zu fahren als der Durchschnitt. Was schon mathematisch nicht funktionieren kann.
Auch bei Intelligenztests schätzen sich Teilnehmer*innen häufig falsch ein. Das ist kein psychischer Defekt. Aber eben eine weit verbreitete Selbstwahrnehmung.
Wer möchte schon gerne Durchschnitt sein?
Grundsätzlich ist das erst einmal nicht schlimm. Wir sind alle irgendwie besser als der Durchschnitt und können dennoch ganz gut miteinander umgehen.
Herausfordernd kann es aber dann werden, wenn sich der Anteil an vermeintlich Überdurchschnittlichen besonders stark konzentriert. Wenn die dann alle noch im selben Kompetenzbereich überdurchschnittlich gut sind, wird es spannend.
Geht es in einer Gruppe am Ende auch noch genau um das Thema, in dem die Überdurchschnittlichkeit vorliegt – dann kann der Diskurs schnell in Schieflage geraten.
Und um das zu toppen, würzen wir die Debatte nun noch mit Expert*innen, die in dem Themenbereich tatsächlich überdurchschnittlich viel Erfahrung und Kompetenz haben. Die kündigen wir auch so an und lassen sie einen ausführlichen Fachvortrag halten, um die Überdurchschnittlichen „mitzunehmen“.
Klingt absurd?
Ist aber tatsächlich gar nicht so selten – in Beteiligungsprozessen überall in der Republik.
Immer dann, wenn offen zu einer Beteiligung eingeladen wird, kann diese Situation entstehen. Denn wenn die sogenannte „Selbstrekrutierung“ stattfindet – also im Grunde kommt, wer will – dann kommen vor allem zwei Gruppen:
Die Betroffenen und die (vermeintlich oder tatsächlich) Kompetenten. Und gerade Betroffenheit löst häufig eine intensive Beschäftigung mit dem Thema aus. Das führt dann zu kompetenten Betroffenen.
Manchmal beruht diese Kompetenz auf tatsächlichen, langjährigen beruflichen Erfahrungen. Manchmal auf einer halbstündigen Google-Recherche.
Lake Wobegon lässt grüßen.
Denn egal wie hoch jeweils der Anteil an tatsächlich oder vermeintlich Überdurchschnittlichen ist: Settings wie oben beschrieben haben ein hohes Eskalationsrisiko.
Ein kluges Design von offenen Beteiligungsprozessen berücksichtigt das.
Am Anfang die gesamte Gruppe mit Fakten, Informationen und Daten aufzuladen, macht Sinn. Aber eben nicht als vertikal gedachte „Belehrung“.
Sondern als erste Chance, die Gruppe zu aktiver Gemeinsamkeit finden zu lassen.
Dafür gibt es zahlreiche Methoden. Wichtig sind dabei im Grunde zwei Prinzipien:
Alle Teilnehmenden müssen die Chance haben, ihr Vorwissen – egal auf welchem Niveau – einbringen zu können. Und die Verarbeitung und Ergänzung dieses Wissens erfolgt durch die Gruppe gemeinsam – gerne auch unter Konsultation von Expert*innen.
Das alles möglichst wertschätzend – indem nicht einzelne Beiträge sofort einem „Realitätscheck“ unterzogen werden, sondern die finalen Sammlungen aller Einwürfe.
Das Format 1-2-4-All kann beim Erarbeiten dieser Vorwissen-Sammlungen helfen, aber auch die 635 Methode oder eine Modifikation des 5-Why-Ansatzes. Erfahrene Moderator*innen kennen viele weitere Tools.
Vieles geht, solange vermieden wird, die Teilnehmenden als leere Batterien zu behandeln, die zu Beginn erst einmal von den Expert*innen „aufgeladen“ werden müssen. Das Risiko, einen Kurzschluss zu produzieren, ist dann hoch.
Berücksichtigen wir das, ist es gar nicht so entscheidend, ob die Überdurchschnittlichen wirklich überdurchschnittlich sind. Oder sich nur dafür halten.
Wichtig ist allein das Wissen, dass es davon oft überdurchschnittlich viele in Beteiligungsprozessen gibt.
Ein Problem ist das nicht, eher eine Chance – wenn wir es richtig angehen.
Dabei kann übrigens auch ein anderer Effekt helfen. Der ist nach einem der Gründerväter der Vereinigten Staaten benannt.
Was wir genau von Benjamin Franklin für das Design von Beteiligungsprozessen lernen können, das schauen wir uns in der kommenden Woche genauer an.