Ausgabe #246 | 19. September 2024
Der Plan
Die legendäre „Frankfurter Schule“ hat die Geschichte der Sozialwissenschaften in Deutschland beeinflusst wie kaum eine andere Gruppe.
Zu den Mitgliedern gehörten unter anderem Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Erich Fromm und Walter Benjamin. Später auch Jürgen Habermas und Oskar Negt.
Begründet wurde sie in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Ihr Zentrum war das Frankfurter Institut für Sozialforschung.
Eine echte „Schule“ war sie nie. Der Name „Frankfurter Schule“ wurde erst rund 40 Jahre später geprägt.
Geprägt haben einige ihrer Mitglieder allerdings auch unser heutiges Verständnis von Partizipation und Demokratie. Vor allem Habermas hat zum Subjekt, zu Kommunikation und Handeln geforscht und geschrieben. Vieles davon beeinflusst uns noch heute.
Sie waren alle große Denker. Und manchmal doch auch kleine Schüler.
Überliefert ist eine nahezu unglaublich klingende Geschichte:
Als das Institut für Sozialforschung Anfang der 30er Jahre endlich zu einer halbwegs stabilen finanziellen Ausstattung gekommen war, hatte Direktor Max Horkheimer eine schöne Idee:
Ein Betriebsausflug in die Toskana sollte es werden. Damals noch ein großes Abenteuer.
Er plante die Reise akribisch. Mit dem Bus sollten Landschaft und Kultur besucht, bewundert und genossen werden.
Doch der Plan funktionierte nicht so, wie gedacht.
Hinten im Bus saßen, wie bei jeder Klassenfahrt, zwei störende Gesellen: Theodor Adorno und Walter Benjamin hatten sich angefreundet und quatschten die ganze Zeit ununterbrochen und laut miteinander.
Das störte die Stimmung und Horkheimer so sehr, dass die beiden eine Standpauke kassierten – und tatsächlich eine „Strafarbeit“ aufgebrummt bekamen.
Adorno musste ein Städtebild von Lucca, Benjamin eins über San Gimignano schreiben.
Das taten sie auch. Und beide Aufsätze gerieten so beeindruckend, dass Horkheimer sie im Anschluss im berühmten Suhrkamp Verlag unterbrachte. Noch heute sind sie in zwei Sammlungen der edition suhrkamp (Nr. 017 und 201) zu finden.
Doch heute soll es nicht um die Frankfurter Schule gehen (wichtig für die Geschichte der Partizipation) oder um Städte der Toskana (wichtig für die Kulturgeschichte).
Sondern um Pläne.
Das berühmte Moltke-Zitat „Kein Plan überlebt die erste Feindberührung.“ ist bekannt. Und wieder mal nur ungefähr korrekt. Genau lautet es eigentlich „Kein Operationsplan reicht mit einiger Sicherheit über das erste Zusammentreffen mit der feindlichen Hauptmacht hinaus“.
Und es hat einen wahren Kern. Allerdings hat der preußische Militärstratege daraus nie den Schluss gezogen, keine Pläne zu machen. Das Gegenteil war der Fall.
Für ihn war gute Planung unverzichtbar. Gute Planung hieß für ihn aber eben auch: flexibel bleiben, auf Veränderungen gefasst und dazu bereit sein.
Ohne Plan zu agieren, kam für Moltke nicht in Frage.
Und da sind wir bei der politischen Teilhabe. Da gibt es viele Parallelen.
Auch sie braucht einen Plan.
Auch sie erlebt manchmal Situationen, in denen die Versuchung groß ist, zumindest Teile der Beteiligten als „Feind“ zu betrachten.
Auch sie ist gut beraten, den ursprünglichen Plan als Kompass und Idee zu betrachten und an die entstehenden Herausforderungen anzupassen.
Mit all diesen Anmerkungen bleibt aber der Grundsatz:
Auch sie braucht einen Plan.
Ein Beteiligungsprozess ist ein planvoller Vorgang. Ein Projekt mit Vorgeschichte, Anfang, Ende und Nachwehen.
Diesen zu planen, ist eine Dienstleistung an den Beteiligten.
Genau in dem Moment, indem dieser Newsletter erscheint, leite ich in Süddeutschland einen Workshop zu „Projektmanagement in der Bürgerbeteiligung“ mit Menschen, die schon einige Erfahrung in Sachen Partizipation haben.
Aber eben trotzdem – oder vielleicht auch gerade deswegen – den Plan in der Beteiligung tiefer durchleuchten wollen.
Wir werden dort über die grundlegenden Bestandteile eines Beteiligungsprozesses sprechen. So, wie sie auch Bestandteil der akademischen Ausbildung im „Beteiligungsmanagement“ der University of Labour sind. Übrigens auch in Frankfurt. In unmittelbarer Nachbarschaft des Instituts für Sozialforschung.
Der Prozess ist in 15 Phasen unterteilt. Nicht immer braucht es alle. Bisweilen sind manche auch kurz. Gelegentlich echte Herausforderungen. Doch sie zu kennen, schadet nie:
- Definition des Beteiligungsgegenstands: Wer beteiligen will, sollte wissen, wozu. Und es auch klar und kompakt sagen können. Wichtig für die potenziell Beteiligten. Denn die müssen entscheiden, ob sie die Sache überhaupt interessiert.
- Ziel der Beteiligung definieren: Wer beteiligen will, sollte wissen, was das Ziel der Beteiligung ist. Und es auch klar und kompakt sagen können. Soll ein Plan besser werden? Ein Vorhaben akzeptiert werden? Ein Konflikt bearbeitet werden? Ebenso wichtig für die potenziell Beteiligten. Denn die müssen entscheiden, ob sie das Ziel überhaupt teilen.
- Entscheidungsspielraum ermitteln: Wer beteiligen will, sollte wissen, was überhaupt zur Beteiligung ansteht. Und es auch klar und kompakt sagen können. Nur auf Basis dieser Information können potenziell Beteiligte entscheiden, ob sich ihr Aufwand überhaupt lohnt bzw. oder lohnen könnte.
- Benötigte Ressourcen klären: Welcher Zeitraum ist realistisch? Welche Mittel stehen zur Verfügung? Wie viel Arbeitsstunden müssen wir investieren? Beteiligung muss nicht aufwändig sein. Aber der Aufwand muss vorher klar sein. Und gesichert.
- Klärung der Rahmenbedingungen: Wer ist an den Ergebnissen interessiert? Und wie werden sie verarbeitet? Wer kann den Prozess fördern, unterstützen – oder eventuell blockieren?
- Zu beteiligende Akteure ermitteln: Wer ist betroffen? Wer könnte sich betroffen fühlen? Wer muss beteiligt werden? Wer könnte beteiligt werden, wer sollte eher nicht beteiligt werden? Und warum? Macht es vielleicht mehr Sinn, Nichtbetroffene zu beteiligen? Gar zu losen? Und was versprechen wir uns davon?
- Motive der Beteiligten klären: Die einen wollen etwas erreichen. Andere etwas verhindern. Dritte wollen gestalten. Wiederum andere einfach nur ihren Frust rauslassen. Es gibt keine „falschen“ Motive. Aber man sollte sie kennen.
- Scoping durchführen: Wenn der Plan die Begegnung mit der Realität überleben soll, dann macht es Sinn, diesen zuvor mit Vertreter*innen der zu Beteiligenden zu durchleuchten, kritische Phasen zu erkennen, Lernprozesse einzubauen, den Plan zu optimieren und zu flexibilisieren. Scoping macht aus guten Plänen realistische Pläne.
- Benötigte Informationen und Kompetenzen organisieren: Wir wissen jetzt, was wir brauchen. Wir müssen es nun organisieren. Das kann einfach sein oder eine große Hürde. Je höher die Hürden, desto wichtiger ist diese Phase.
- Erwartungen ermitteln: Wer erwartet was? Worauf hoffen die unterschiedlichen Beteiligten? Was fürchten sie? Und wie steht es um die Beteiliger*innen? Die Entscheider*innen? Die Moderation und die Organisator*innen? Die besten Pläne nützen nichts, wenn sie die Erwartungen der Beteiligten nicht berücksichtigen.
- Ergebnisverarbeitung klären: Beteiligung produziert Ergebnisse. Das können Ideen sein, konkrete Vorschläge oder fein ausformulierte Konzepte. Entscheidend ist, was im Anschluss damit geschieht. Das muss geklärt sein. Vorher.
- Beteiligungsformate durchführen: Jetzt erst passiert das, was wir im engeren Sinn „Beteiligung“ nennen würden. Wir organisieren Deliberation in Formaten, die zum Thema, vor allem aber zu den Beteiligten, passen.
- Ergebnisse konsolidieren: Wer formuliert die Ergebnisse? Und wann? Die Antwort darauf ist ebenso wichtig wie eine wertschätzende Moderation oder das passende Format. Beteiligung ist erst vorbei, wenn die Ergebnisse feststehen – und das unter Beteiligung der Beteiligten. Das ist nicht immer ein Konsens, manchmal nicht mal ein Einvernehmen. Und oft gibt es abweichende Meinungen. Wie diese Ergebnisse zusammengefasst und priorisiert werden, das ist Bestandteil, Höhepunkt und Abschluss eines guten Beteiligungsprozesses.
- Ergebnisse in Entscheidungsprozesse einspeisen: Diese Ergebnisse müssen im Anschluss auch die politischen Entscheider*innen erreichen. Und Berücksichtigung finden. Das zu planen, ist eine Sache, es auch umzusetzen eine andere. Beides aber ist Bestandteil jedes guten Beteiligungsprozesses.
- Feedback an Teilnehmende geben: Werden die Beteiligungsergebnisse umgesetzt? Längst nicht immer. Und das müssen sie auch nicht. Was aber ein Muss ist: Über umgesetzte Ergebnisse berichten und nicht umgesetzte Ergebnisse erklären. „Do it or explain it“, lautet die Formel. Und sie entscheidet ganz maßgeblich mit darüber, ob die Beteiligten sich irgendwann erneut engagieren oder nicht.
Nicht immer braucht es alle Phasen. Schon gar nicht in aufwändiger Umsetzung. Doch zumindest die ersten drei sollten wir immer absolvieren. Sie sind die Grundlage für einen gelingenden Prozess. Ohne sie kann es uns gehen wie dem Generalfeldmarschall ohne Plan:
Kann funktionieren.
Ist aber eher unwahrscheinlich.