Ausgabe #259 | 19. Dezember 2024
Gute Unterhaltung
Es ist Wahlkampf in Deutschland.
Die ersten Plakate hängen schon. Freundliche, meist ältere Männer und auch Frauen lächeln uns an, garniert von maximal inhaltsfreien Slogans.
Wahlkampfprofis wissen: Auf Plakaten geht es darum, sympathisch rüberzukommen.
Die schmutzigen, giftigen Teile des Wahlkampfes finden anderswo statt.
Bei Parteiveranstaltungen zum Beispiel geht es zur Sache. Da wird die politische Konkurrenz wahlweise als unberechenbar, unfähig, unwillig, unerfahren, unsittlich oder unerfahren etikettiert. Gerne auch mal alles zugleich.
Besondere Höhepunkte bieten uns Veranstaltungen, an denen die Kandidierenden unmittelbar aufeinandertreffen. Vorbereitung, Struktur und Moderation sorgen dafür, dass das Eskalationspotential hoch ist. Der Erkenntnisgewinn dafür meist eher niedrig.
Das liegt weniger an den handelnden Personen, eher an den vermeintlich ehernen Gesetzen des Wahlkampfes.
Schon kleinste Innovationswagnisse sorgen denn auch regelmäßig für Empörungswellen.
ARD und ZDF wollten in diesem Wahlkampf gerne ein Duell der beiden aussichtsreichen Kanzlerkandidaten inszenieren und luden Olaf Scholz und Friedrich Merz zu einem Live-Termin ein.
Die beiden nicht wirklich mit viel Kanzler-Phantasie wahrgenommenen Spitzenkandidaten von Grünen und AfD sollten ein B-Liga-Duell an einem anderen Termin bestreiten.
Wenig überraschend fühlen sich deren beiden Parteien nun grob benachteiligt, weil sie sich zweitklassig einsortiert sehen. Und weil sie ohnehin lieber gar nicht miteinander reden wollen.
Dabei ist das wirkliche Problem gar nicht die Zweiteilung der geplanten rhetorischen Gemetzel.
Die problematische Botschaft liegt in der grundsätzlichen Inszenierung von Politik als Streit.
Als Streit bei dem die Einigung nicht mal eine theoretische Option ist. Bei dem ein Verstehen der anderen Position kein Ziel sondern eher eine dramaturgische Störung wäre. Bei dem es nicht um emphatisches Verstehen sondern um strategisches Missverstehen geht.
Dabei haben wir längst erkannt, dass wir unsere Demokratie nicht stärken, indem wir ab- und ausgrenzen.
Tag für Tag werden in zahlreichen Kommunen Deutschlands Prozesse organisiert, bei dem Grenzen überwunden, Sprachlosigkeit beendet, Konflikte beigelegt werden.
Das gelingt mal mehr, mal weniger gut.
Aber immer geht es darum, unterschiedliche Haltungen und Erwartungen zu respektieren, sich verstehen zu wollen und um Lösungen zu ringen.
Genau darum geht es bei Beteiligung.
Und wir bauen sie immer weiter aus, weil wir wissen, wie nötig es ist, Dialogbereitschaft und -kompetenz zu fördern.
Und dann haben wir keine bessere Idee, als unsere potenziellen zukünftigen Regierungschefs aufeinanderzuhetzen wie römische Gladiatoren?
Beteiliger wissen, dass es anders geht. Gehen kann. Ja gehen muss.
Vielleicht solltender politische Dialog der Spitzenkandidat*innen mal nicht als Show, sondern als Dialog gedacht werden? Vielleicht auch mal als Dialog mit den Wählerinnen und Wählern statt zu deren wahlweiser Unterhaltung oder Empörung?
Wenn wir alle wieder mehr miteinander sprechen sollen, dann lohnt es sich, ganz oben , ganz öffentlich, zur besten Sendezeit mit den entscheidenden Kandidat*innen damit anzufangen.
Beteiliger wüssten, was da alles möglich wäre. Es gibt zahlreiche, bewährte Formate, Konflikte nicht wegzulächeln, sondern dialogisch und wertschätzend auszutragen.
Wir experimentieren mit losbasierten Bürgerräten, lassen die Bürgerinnen und Bürger aber vor allem intensiv moderiert miteinander diskutieren, kaum jedoch mit der Politik.
Warum lassen wir nicht eine vielfältige, geloste Gruppe von Menschen zur besten Sendezeit erst miteinander die Themen fixieren, die sie beschäftigen, um sie dann noch in derselben Sitzung mit den Spitzenpolitiker*innen zu diskutieren? Gut moderiert, mit direkten Nachfragen, begleitet von einer Schwurbelampel, die Plattitüden ausbremst?
Es gibt viele alternative Methoden.
Die Denkhüte zum Beispiel: Bürger*innen und Politiker diskutieren. Verschiedenfarbige Hüte wechseln den Träger. Dabei steht jede Farbe für eine bestimmte Denkweise: Weiß steht für die erwiesenen Fakten, Daten und gegebenen Informationen. Ist die „weiße Denkweise“ gefragt, geht es um die sachliche Ebene. Tragen die Teilnehmenden den roten Hut, dann kommen Emotionen in die Diskussion. Der schwarze Hut beleuchtet alle möglichen negativen Aspekte des Themas. Es werden Risiken, Bedenken und Gefahren diskutiert. Der gelbe Hut stellt genau das Gegenteil dar: Alle positiven Aspekte, Hoffnungen, Wünsche und Chancen stehen jetzt im Mittelpunkt. Der grüne Hut bietet Platz für Kreativität, Ideen und Aspekte, die bisher nicht angesprochen wurden. Der blaue Hut fügt keine weiteren inhaltlichen Punkte hinzu, sondern ordnet, bewertet und sortiert die zuvor genannten Argumente.
Gut moderiert funktioniert das ganz wunderbar auch mit debattierunerfahrenen Menschen.
Auch andere Formate sind telegen umsetzbar. Ein kompaktes Partizipatives Backcasting macht aus Konfliktparteien Lösungsbeitragende.
In einem Nyaka-Prozess werden „Defekte“ und „Lösungen“ gemeinsam gesammelt und gegenübergestellt.
Formate wie Appreciative Inquiry oder Dynamic Facilitation ermöglichen sogar, sehr emotionale Konflikte gemeinsam zu bearbeiten.
Jedes einzelne dieser Formate und noch zwei Dutzend mehr sind praxiserprobt und fernsehtauglich. Einige gäben eine hoch unterhaltsame Prime-Time-Unterhaltung her.
Allen ist gemein, dass sie Unterschiede nicht verkleistern sondern sichtbar machen – aber an Lösungen und Gemeinsamkeiten interessiert sind.
Klingt ein wenig naiv.
Ist es vermutlich auch. Und genau das ist der Grund, warum wir ernsthaft darüber nachdenken sollen.
Denn solange wir Spitzenpolitik medial so zelebrieren, wie wir es tun, brauchen wir uns über gesellschaftliche Spaltung und Demokratiemüdigkeit nicht wundern.
Unten an der gesellschaftlichen Basis mühsam Miteinander zu trainieren um dann oben an der politischen Spitze mit großem medialen Tamtam das Gegenteil zu inszenieren, ist kein zukunftsfähiges Konzept.
Wenn wir das ändern wollen, und wir müssen es, dann wäre jetzt die Zeit für ein wenig mehr Experimentierfreude da.
Ich weiß, dass viele Kolleginnen und Kollegen aus Senderredaktionen diesen Newsletter lesen. Und ich halte mich gemeinhin mit Werbung dafür zurück. Aber:
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