Ausgabe #9 | 27. Februar 2020
Bürger beteiligen ihre Stadt
Ja, Sie haben schon richtig gelesen. Da ist kein Tippfehler in der Überschrift. Heute möchte ich Ihnen ein Projekt vorstellen, bei dem Bürgerbeteiligung einmal andersrum funktioniert, seit über 20 Jahren, und seit dieser Woche auch ganz offiziell mit einem bundesweiten Preis ausgezeichnet.
In der Tat kennen wir die Bürgerbeteiligung in Deutschland einerseits als vergleichsweise junge Praxis, andererseits mit klassisch verteilten Rollen: Die Politik, die Wirtschaft, oder (meistens) eine öffentliche Verwaltung beteiligt Bürgerinnen und Bürger.
Manchmal werden diese über ein Losverfahren ausgewählt, manchmal öffentlich eingeladen, oft werden bestimmte Bevölkerungsgruppen auch ganz offensiv rekrutiert. Immer aber heißt Bürgerbeteiligung: Bürger*innen werden beteiligt.
Besonders innovative, erfolgreiche, beispielhafte Beteiligungsprojekte werden seit kurzem auch öffentlich prämiert: „Ausgezeichnet! – Wettbewerb für vorbildliche Bürgerbeteiligung 2019/20“ ist die wichtigste Auszeichnung, die in Deutschland für Beteiligung vergeben wird.
Träger ist das Bundesumweltministerium gemeinsam mit dem Umweltbundesamt. Die Jury besteht aus Beteiligungsexpert*innen und Bürger*innen. Ich selbst hatte in diesem Jahr erstmals das Vergnügen, in der Jury mitzuwirken. Und ein Vergnügen war es in der Tat.
Beworben hatten sich 20 Beteiligungsträger, die Hälfte davon zog ins Finale ein und präsentierte sich Jury und Öffentlichkeit im Rahmen einer Fachtagung im Berliner Umweltministerium.
Vergeben hat die Jury am Ende vier Auszeichnungen. Die Entscheidung fiel dabei letztlich nicht leicht, aber nach einer extrem wertschätzenden und fachlichen Abwägung.
Der Sonderpreis „Innovation“ ging an die Stadt Konstanz, die ihre Stadtentwicklung mit einem beeindruckend vielfältigen und mutigen Portfolio an Beteiligungsangeboten partizipativ organisiert.
Den zweiten Sonderpreis „Kooperation“ konnte die Delegation aus Hoyerswerda mitnehmen, die als ostdeutsche Stadt in der infrastrukturell arg gebeutelten Lausitz ob ihres starken Bevölkerungsrückgangs nicht verzweifelt, sondern gemeinsam mit den Bürger*innen an einer Vision „Hoyerswerda 2030“ arbeitet und dabei vieles ausprobiert und engagiert mit Beteiligung experimentiert.
Einer der beiden Hauptpreisträger ist die Hochrheinkommission, die im tiefen Südwesten der Republik trotz geringer Mittel wunderbar emphatische Beteiligung über Ländergrenzen hinweg organisiert.
Der zweite Hauptpreis geht nach Augsburg. Nicht an die Stadt. Zumindest nicht nur, sondern an ganz viele Bürgerinnen und Bürger, über 900 nach Auskunft der Gäste aus Bayern: Die „Lokale Agenda 21 – für ein zukunftsfähiges Augsburg“, arbeitet seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
Entstanden als lokales Agendaprojekt hat sich daraus über die Jahre ein großes Netzwerk aus rund 30 einzelnen Foren entwickelt, die jeder für sich und alle gemeinsam an einer zukunftsfähigen, nachhaltigen Stadtgesellschaft arbeiten.
Viele Ideen der Agenda haben es dabei tatsächlich in die offizielle Stadtpolitik geschafft, auch weil die Stadt eine hauptamtliche Geschäftsstelle finanziert. Vor allem aber, weil mehr und mehr Bürger*innen sich beteiligen, anderen Beteiligungsangebote machen und diese Angebote auch in Richtung lokaler Verwaltung, Politik und Wirtschaft nicht nur bestehen, sondern auch wahrgenommen werden.
Das geht nicht immer konfliktfrei, aber dank einer wertschätzenden und kritikoffenen Kultur seit langer Zeit auf eine beispielgebend partizipative Art. Wir sprechen in der Demokratiebewegung gerne über „Beteiligungskultur“. In Augsburg wird sie offensichtlich gelebt.
Was zeigt uns das Augsburger Beispiel?
Vor allem eines: Beteiligung ist nach wie vor eine Bringschuld unserer demokratischen Institutionen. Aber sie ist eben nicht nur möglich, wenn diese Bringschuld eingelöst wird.
Beteiligung ist ein demokratisches Recht, das man nicht nur einfordern, sondern sich schlicht nehmen kann, darf und sollte.
Beteiligung können auch Bürgerinnen und Bürger organisieren, das geht im Kleinen mit einer Nachbarschaftsversammlung ebenso wie im Großen bei umfangreichen kommunalen Vorhaben.
Wie stemmt unsere Kommune ihren Beitrag zur Energiewende? Wie geht sie mit dem Klimawandel um? Welche Zukunft bietet Sie unseren Kindern? Diese und viele Themen mehr sind Beteiligungsthemen, ob von der Politik angeboten oder von Bürger*innen organisiert. Die gestern in Berlin gekürten Preisträger zeigen uns:
Beides ist möglich.
Beides ist gut.
Beides ist partizipative und damit zukunftsfähige Demokratie.
Herzlichst, Ihr Jörg Sommer