Ausgabe #298 | 18. September 2025
Der Duplex-Effekt
Bei vier wilden Kindern dachten meine Frau und ich, eine Rechtsschutzversicherung sei eine gute Idee.
War es nicht, wie wir später lernten.
Zwar zahlten wir Jahr für Jahr brav unsere Beiträge. Doch in allen drei Fällen, in denen wir sie in den folgenden Jahren brauchten, fand die Versicherungen irgendwelche Klauseln im Vertrag, die sie aus der Haftung befreite.
Ähnliche Erfahrungen mit Versicherungen machen Tag für Tag viele Menschen in unserem Land. Und viele hören auch einen ähnlichen letzten Satz des Versicherungsvertreters. Während er seine mit Unterschriften versehene Beute einpackt, fragte er uns damals:
„Ach. Und haben sie noch Freunde und Bekannte, die eine Versicherung brauchen?“
Später habe ich gelernt, dass dieser Satz in unterschiedlichen Varianten fester Bestandteil der Vertreterausbildung ist. So wird aus einem abgeschlossenen Deal oft schon die Chance zu einem nächsten.
Genau an diese Praxis musste ich gestern Nachmittag denken, als ich in Hamburg mit zahlreichen Menschen aus der Gesundheitsprävention über breite Beteiligung sprach.
Auch in der Prävention wird beteiligt. Dort ist man besonders intensiv daran interessiert, die viel beschworenen „stillen“ Gruppen zu erreichen.
Also jene Menschen, die in der Gesellschaft wenig politischen Einfluss haben, deren Lebenswirklichkeit aber oft ganz besonderes von staatlichem Handeln beeinflusst wird.
Konkretes Thema war die Beteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund. Die sind oft skeptisch gegenüber Staat und Verwaltung eingestellt, weil sie diese eher mit Problemen als mit Unterstützung verbinden.
Wir sprachen über unterschiedliche Ansätze, viele davon zumindest in Fachkreisen bekannt.
Aufsuchende Beteiligung ist so ein Konzept. Hier kommen die Angebote zu den Menschen. Dorthin, wo sie sich mit anderen treffen, wo sie sich sicher und ein Stück weit zu Hause fühlen. Angebote für Ältere in einem Seniorentreff sind so eine klassische Variante.
Das Konzept ist durchaus erfolgreich, hat aber den manchmal als Nachteil empfundenen Effekt, dass hier eine zwar stille, aber separate Gruppe beteiligt wird.
Möchte man wirklich breit beteiligen, also unterschiedliche Milieus zusammenbringen, dann greift man gerne zu dem, was mit Heimsuchender Rekrutierung am besten beschrieben ist: Also die direkte Ansprache und Gewinnung an der Haus- oder Wohnungstüre.
Das ist mühsam, nicht alle sind dafür geschaffen. Aber mit etwas Geduld und Frustrationstoleranz kann das funktionieren.
Auch Beteiligung im öffentlichen Raum ist ein spannender Ansatz: Niedrigschwellige Konsultation zum Beispiel vor Einkaufszentren oder anderen Hotspots im Quartier.
Zwar sind es auch hier oft die stilleren Gruppen, die einen großräumig umgehen. Doch den ein oder anderen Erfolg kann man hier durchaus landen – und manchmal auch gleich für intensivere Anschlussangebote rekrutieren.
Vor allem in der Beteiligung junger Menschen wird gerne das Konzept der zugeführten Beteiligung gewählt. In der Schule, im Rahmen des Unterrichts, ist das oft eine willkommene Abwechslung für die Jugendlichen – und nicht selten auch für die Lehrkräfte.
In Deutschland noch selten, aber zum Beispiel in Frankreich und den Niederlanden sehr erfolgreich, ist das Konzept der delegierten Beteiligung.
Hier planen und realisieren zivilgesellschaftliche Gruppen in Kooperation bzw. im Auftrag der Verwaltung Beteiligung im eigenen Milieu, voll- oder teilfinanziert aus öffentlichen Mitteln. Auch in Deutschland gibt es hier erste positive Erfahrungen.
Sehr erfolgreich, aber noch sehr selten praktiziert ist ein Konzept, dass tatsächlich von uns von den eingangs erwähnten Versicherungsmaklern inspiriert ist.
Es geht darum, dass Menschen ihr unmittelbares Umfeld für ein Angebot sehr viel leichter gewinnen können, weil es da Vertrauensbeziehungen gibt.
Gerade wenn es gelungen ist, einzelne Beteiligte aus der Zielgruppe zu gewinnen, die Zahl und Breite aber noch ausbaufähig ist, kann es Sinn machen, das Beteiligungsformat zu splitten.
Also zunächst eine eher kompakte, kurze, extrem niedrigschwellige Veranstaltung zu planen, die auf viel Wertschätzung und positive Wirksamkeitserfahrungen setzt.
Diese findet einige Tage oder Wochen später eine dann intensivere Fortsetzung. Die Teilnehmenden werden gezielt dazu motiviert, beim nächsten Mal Freunde, Bekannte, Nachbarn mitzubringen.
Gerade in migrantischen Milieus funktioniert das oft ganz ausgezeichnet. Denn die von Anfang an Beteiligten fühlen sich deutlich sicherer, wenn sie bekannte Gesichter dabei haben.
Sie sind also motiviert, in ihrem Umfeld zu werben. Und das Umfeld vertraut ihnen deutlich mehr, als anonymen Einladungsbriefen der Verwaltung.
Diese Idee, Veranstaltungen also gezielt doppelt zu planen, nennen wir Duplex-Beteiligung – nach einer historischen Drucktechnik, bei der erst schwarz und dann eine zweite Farbe minimal verschoben übereinander gedruckt werden und so mehr Tiefe im Bild entsteht.
Und genau das streben wir ja auch in der Beteiligung an.
Wir sehen also: Es gibt mehr als einen Pfad, um gerade migrantische Gruppen für Beteiligung zu gewinnen.
Die vorgestellten Anlässe sind nicht alternativ, sondern durchaus kombinierbar.
In Hamburg stieß dabei besonders der Duplex-Effekt auf großes Interesse.
Ihn zu nutzen, kann sich lohnen – übrigens nicht nur in migrantischen Milieus …