#309 | Julia Klöckner liegt daneben

Unsere Bundestagspräsidentin versteht den Nutzen von Bürgerbeteiligung nicht. Damit steht sie nicht allein. Und es sollte uns nicht überraschen …

Ausgabe #309 | 4. Dezember 2025

Julia Klöckner liegt daneben

In der vergangenen Woche gönnte ich mir einmal wieder ein kleines soziales Experiment. Es ging um das Verständnis von Bürgerbeteiligung, das zentrale Akteure unserer repräsentativen Demokratie haben.

Und um ihre Sorgen, Ängste und Befürchtungen.

Ausgangspunkt war eine Äußerung unserer amtierenden Bundestagspräsidentin Julia Klöckner:

Die demokratische Legitimierung des Bundestags sei „um ein Vielfaches größer als es jedes dialogische Beteiligungsformat“ sein könne.

Eine Aussage, die stimmt. Und die einer ihrer Vorgänger, Wolfgang Schäuble, sicher ebenso unterstützt hätte.

Nur hat Schäuble das Format Bürgerräte beim Bundestag eingeführt. Klöckner jetzt die entsprechende Stabsstelle in der Bundestagsverwaltung aufgelöst.

Was ist dazwischen passiert? Gab es schlechte Erfahrungen? Einen Sinneswandel in der CDU, der ja beide Politiker*innen angehören?

Das haben wir in der vergangenen Woche diskutiert, auch das Missverständnis von Bürgerbeteiligung, die Verwechslung von Bürgerräten und Betroffenenbeteiligung und die Gründe für die Ablehnung in weiten Kreisen der Bundespolitik.
Heute wollen wir versuchen, noch besser zu verstehen, warum das so ist.

Doch vorher werten wir kurz unser Experiment aus.

Auf LinkedIn, wo dieser Newsletter wie auf anderen Kanälen wöchentlich erscheint, wird er stets nur mit einem kurzen Teaser ausgespielt. Wer den ganzen Test lesen will, muss einmal klicken und fünf Minuten Zeit investieren.

Das führte zu interessanten Reaktionen.

Recht schnell nach Erscheinen hinterließen einige Wirtschafts-Lobbyisten giftige Kommentare. Wie sich bei Nachfragen schnell zeigte, hatten sie nur die Überschrift gelesen „Julia Klöckner hat recht“ und das Stichwort „Bürgerräte“. Das führte dann zu solchen Kommentaren:

„Unnötiger Schnickschnack“
„Bürgerräte – was für ein Unwort. Gut, dass der Spuk vorbei ist!“
„Woker Unsinn.“
„Das waren doch nur linksgrüne Promoters, als Alibi für Habeck und die Sozis.“

Was dann wiederum die Befürworter von Bürgerräten provozierte. Und zack, ging der Beitrag viral. Rund 100 Mal mehr Aufrufe als gewöhnlich, über 100 neue Abonnent*innen. Marketingtechnisch ein Erfolg.

Doch darum geht es nicht. Bezeichnend war die durchgängige Diskurskultur einer ganz bestimmten Gruppe von Lobbyisten und Mittelständlern (Das Gendern können wir uns dieser Stelle tatsächlich schenken):

Keine Bereitschaft, mehr als drei Sätze zu lesen, bevor die Reaktion einsetzt. Diese dann völlig befreit von jeder Art von Argumenten.

Das zeigt wieder einmal, wie unrealistisch es ist, Social-Media-Plattformen als Ort des inhaltlichen Austauschs mit Andersdenkenden zu sehen. Und es zeigt, wie wichtig es ist, ihn anderweitig zu organisieren – zum Beispiel in der dialogischen Bürgerbeteiligung.

Es zeigt aber auch, wie grundlegend das Missverständnis bei vielen Akteuren in der Wirtschaft, aber auch in der Politik ist, mit dem sie Bürgerbeteiligung betrachten.

Das ist oft nicht böser Wille, sondern ein Ergebnis von unterschiedlichen Handlungslogiken in Politik und Beteiligung.

Unser Institut bietet immer wieder Workshops für Politiker*innen an, die sich mit Bürgerbeteiligung auseinandersetzen wollen. Darin sprechen wir über die Grundlagen, die Potenziale, aber auch die Risiken schlecht gemachter Beteiligung.

Wir diskutieren darüber, wann es Sinn macht, losbasierte Beteiligtenpanels einzuladen, wie zum Beispiel bei Bürgerräten – und wann eine Beteiligung unmittelbarer Betroffener die bessere Lösung ist.
Die spannendsten Diskussionen und den größten Aha-Effekt haben wir aber regelmäßig dann, wenn wir uns gemeinsam eine Tabelle ansehen.

Sie stellt die unterschiedlichen Handlungslogiken von Politik und Beteiligung dar, sie basiert auf einem Entwurf von Dr. Andreas Paust, dem Vorsitzenden des Kompetenzzentrums Bürgerbeteiligung, der zudem den wunderbaren Blog partizipendium.de betreibt.

Diese Logiken helfen nicht nur beim Verständnis der Aufgaben, die die beiden Handlungsfelder leisten können, sondern sie erklären auch, warum es politischen Akteur*innen oft so schwerfällt, den Nutzen von Beteiligung zu erkennen und in ihre Arbeit zu implementieren.

  1. Politik ist auf dauerhafte Gestaltung ausgelegt und schließt dazu oft kurzfristige Kompromisse. Beteiligung ist stets ein vergleichsweise kurzfristiger Prozess, aber oft mit dem Fokus auf langfristige Gestaltung.
  2. In der Politik liegt der Fokus auf dem Treffen von Entscheidungen und dem Fassen von Beschlüssen. In der Beteiligung geht es um Dialoge und Ideen.
  3. In der Politik braucht es Durchsetzungswillen, um Ziele zu erreichen. In der Beteiligung geht es um Vorschläge und Anregungen.
  4. Politik ist orientiert auf Ergebnisse, Beteiligung ist ergebnisoffen. Sie hat den Prozess im Fokus.
  5. In der Politik geht es um Gewinnen, um die Ausübung von Macht. In der Beteiligung geht es um Einigung. Beides gelingt nicht immer, ist aber ein Ziel.
  6. In der Politik geht es um Mehrheiten. In der Beteiligung um Konsens, Einvernehmen oder zumindest Akzeptanz.
  7. Der Kompromiss ist in der Politik allgegenwärtig, aber immer nur eine oft befristete „Notlösung“, in der Beteiligung wird er als Erfolg angestrebt.
  8. In der Politik geht es um Kontrolle von Staat, Verwaltung, Prozessen und oft der eigenen Parteikolleg*innen. Beteiligung ist dann besonders erfolgreich, wenn Kontrollverlust zugelassen wird.
  9. In der Politik sind Prozesse, Debatten, Machtdelegation streng reglementiert, in der Beteiligung wird auch das Miteinander ausgehandelt.
  10. In der Politik dominiert deshalb das konfrontative Element, in der Beteiligung geht es um kooperatives Handeln.

Diese zehn Unterschiede in den Handlungslogiken sind nicht immer und in jedem Fall gegeben oder gleich wirksam. Sie prägen aber die Menschen, die dort agieren, die Prozesse, die Erwartungen.

Wir sollten uns also nicht wundern, wenn Politiker*innen, insbesondere jene, die es an die Spitze der Wirksamkeitspyramide geschafft haben, den Nutzen von Beteiligung nicht erkennen können.

Sie „nutzt“ ihnen in ihrer Handlungslogik ja auf den ersten Blick nicht wirklich. Sie steht für alles, was in der Politik als Risiko, Hindernis oder gar Niederlagerisiko wahrgenommen wird.

Das ist auch kein Fehler im System.

Es ist vielmehr genau der Grund, warum wir Beteiligung genau so brauchen, wie sie ist. Weil sie die Chance bietet, das zentrale Gestaltungsthema auch in einer anderen Logik zu verhandeln.

Nicht als Alternative zur Politik.

Sondern als Ergänzung, als Aufwertung, als Qualifizierung, als Legitimierung.

Es stimmt. Nach wie vor hadern viele Politiker*innen mit Beteiligung.

Doch das ist selten böser Wille. Es ist Konditionierung in langen, schmerzhaften, risikoreichen und oft brutalen politischen Auseinandersetzungen.

Die gute Nachricht lautet: Diese Vorbehalte sind überwindbar. Wir erleben es in den Workshops, wir erleben es auch häufig dann, wenn Politiker*innen sich einmal wirklich auf einen Beteiligungsprozess einlassen.

Gute Beteiligung ist keine Bedrohung für politische Akteur*innen, Institutionen und Prozesse.

Sie ist eine Bereicherung.

Wenn man verstanden hat, warum sie anderen Handlungslogiken folgt, ja folgen muss, als die Politik.

Und nun noch ein kleiner Nachtrag: Wie setzen wir das erwähnte Experiment heute fort. Teaser und Titel weisen heute genau in die andere Richtung, als in der vergangenen Woche.

Mal sehen, wer sich diesmal zu welchen Kurzschlusshandlungen motivieren lässt.

Sie sicher nicht, denn Sie haben ja bis zu dieser Stelle gelesen.

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