#23 | Immer diese Medien

Presse und Partizipationsakteure sind faktisch in derselben Branche tätig. Sie wissen es nur nicht.

Ausgabe #23 | 4. Juni 2020

Immer diese Medien

Medien-Bashing ist irgendwie so eine Art Volkssport geworden. Gut geschmierte Empörungsmaschinen laufen an, sobald ein Kinderchor im WDR das falsche Lied singt, die Tagesschau ein falsches Wasserfall-Bild präsentiert oder sich ein Intendant im Interview verhaspelt.

Nur ein kurzer Besuch auf einer der aktuellen „Hygiene-Demos“ zeigt: Neben Angela Merkel und Bill Gates ist der Journalist (oder die Journalistin) an sich eines der beliebtesten Feindbilder längst nicht nur der extremen politischen Ränder geworden.

Geschenkt, dass viele, die ARD und ZDF kein Wort glauben, treue Konsumenten von BILD oder gar COMPACT sind. Das ist im Grunde auch weder überraschend noch neu. Wer eine gewisse Affinität zu „alternativen Fakten“ hat, der kann naturgemäß kein Medium gut finden, das sich an echten Fakten abarbeitet.

Heute möchte ich gerne ein anderes Phänomen diskutieren: Das Medienbild, das wir Akteure der demokratischen Teilhabe haben. Es ist deutlich wertschätzender und differenzierter. Glauben wir.

Aber stimmt das auch?

So gut wie alle Verantwortlichen, denen ich bislang im Bereich der Bürgerbeteiligung begegnet bin, respektieren die Arbeit der Journalist*innen. Ohne Zweifel käme ihnen das Wort „Lügenpresse“ nie ernsthaft über die Lippen. Das mit der Wertschätzung ist also prinzipiell okay.

Bei der Differenzierung sieht es schon anders aus. Immer wieder äußern Beteiliger und Beteiligte großes Bedauern darüber, dass „die Presse“ sich einfach nicht für Beteiligung interessiere. Den Satz „Die kommen nur, wenn’s knallt“ habe ich schon in unendlich vielen Varianten zu hören bekommen.

Diese Einschätzung ist gar nicht so ganz falsch.

Sie beschreibt ein Problem. Aber kein Problem der Presse, sondern ein Problem der praktizierten Beteiligungskultur.

Es stimmt, Konflikte sind der Stoff aus dem die Nachrichten sind. Harmonie ist es eher nicht. Als Schriftsteller weiß ich: Kein Konflikt, keine Geschichte. Niemand will einen Roman lesen, in dem sich 365 Seiten alle einig sind. Das gilt genauso für die Zeitung. Wer wissen will, wie Journalismus aussieht, der keine Konflikte thematisiert, werfe einen Blick in eine beliebige Ausgabe der SED-Zeitung NEUES DEUTSCHLAND der 60er Jahre.

Journalist*innen interessieren sich für Konflikte. Das ist etwas Gutes. Das ist die Essenz einer freien Presse. Nicht zu verwechseln mit der BILD. Gute Journalist*innen interessieren sich für Konfliktbearbeitung. Die BILD interessiert sich für Eskalation. Lassen wir also die BILD beiseite, reden wir von Journalist*innen.

Es gibt also gar keinen Grund, warum Gute Bürgerbeteiligung für die Presse uninteressant sein sollte. Denn: Journalist*innen bearbeiten Konflikte. Gute Bürgerbeteiligung tut das auch.

Ich habe schon mehrfach darüber geschrieben, wie wichtig es ist, eine konfliktbejahende Beteiligungskultur zu praktizieren. Konflikte stören keine Bürgerbeteiligung, sie sind deren Treibstoff. Wenn also unsere Beteiligung für die Presse nicht interessant genug ist, muss das nicht an der Presse liegen.

Es kann auch daran liegen, dass wir Konflikten nicht den Raum bieten, den sie benötigen. An einem liegt es jedenfalls meiner Erfahrung nach so gut wie nie:

Dass es keine Konflikte gibt.

Ganz eindrucksvoll belegt das ein gerade laufender Wettbewerb: Die Allianz Vielfältige Demokratie hat in diesem Jahr erstmals einen Medienpreis „Vielfältige Demokratie“ ausgelobt – und über 100 Bewerbungen wurden eingereicht.

Ich hatte in der vergangenen Woche das Vergnügen, die drei Finalist*innen zu präsentieren. Mein Team und ich haben 6 Wochen gebraucht, um jeden einzelnen Beitrag zu sichten. Und glauben Sie mir: Es war wirklich, wirklich schwer.

Selbst ich war überrascht, nicht nur über die Qualität der allermeisten Beiträge, sondern eben auch darüber, wie pointiert, engagiert, wertschätzend und seriös die Teilnehmer*innen am Wettbewerb über ganz unterschiedliche Facetten demokratischer Prozesse berichtet haben. Und ja, in faktisch jedem Beitrag ging es um Konflikte.

Ganz besonders zeigen uns das die drei Finalist*innen, aus denen die rund 200 Expert*innen der Allianz nun bis zum 15. Juni 2020 den oder die Preisträger*in wählen. Leider kann ich sie hier nur kurz vorstellen:

„Ist Demokratie lernbar? Die Verfassungsschüler“

70 Jahre ist unsere Verfassung in Kraft, doch welche Rolle spielt das Grundgesetz im Leben junger Menschen? Ein Jahr lang bringt Sozialwissenschaftler Yilmaz Woche für Woche seinen sogenannten „Verfassungsschülern“ politisches Denken und Diskutieren nahe. Inhalt und Wert des Grundgesetzes. Und das in einem Viertel in Dortmund, in dem Perspektivlosigkeit und Armut den Ton angeben. Die Filmemacherin Nicole Rosenbach begleitet das Projekt in ihrer 45-minütigen WDR-Reportage und dokumentiert darin einprägsame Momente, so zum Beispiel eine erstaunliche Diskussion zwischen den jungen „Verfassungsschülern“ und einer AfD-Politikerin.

„Ich und der ganz andere“

„Finbarr O’Briens trauriges Leben, das bisher 62 Jahre dauert, kennt auch Schönheit. Die Geburten seiner beiden Söhne. Nachmittage mit seinen Enkelkindern. Auch der Moment, als er erfuhr, dass sich der Mann, dessen Namen er nicht ausspricht, umgebracht hat …“ So beginnt eine einfühlsame Reportage über zwei Männer in Irland, die unterschiedlicher kaum sein könnten – und über eine ungewöhnliche Bürgerbeteiligung. Denn Irland wagte ein Experiment: Eine Versammlung aus hundert Bürger*innen diskutierte wichtige Themen und beeinflusste das Parlament. So ist lebendige Politik entstanden – und eine Freundschaft zweier Männer, die füreinander erst nur Vorurteile übrig hatten. Der Journalist Bastian Berbner schrieb diese ungewöhnliche Reportage für das Süddeutsche Zeitung Magazin.

„Mühsame Energiewende: Der Bürger und das Windrad“

Damit die Energiewende gelingt, braucht Deutschland rund 40.000 Windräder. Um jedes Einzelne wird gestritten – so wie in Eberstadt in Baden-Württemberg. Im Bürgerdialog soll ein Kompromiss gefunden werden. Die freie Journalistin Uschi Götz hat diesen komplizierten und langwierigen Prozess fast ein ganzes Jahr begleitet und darüber eine Reportage für den Deutschlandfunk produziert, in der Kritiker*innen, Planer*innen, Betreiber*innen, Gemeinderät*innen und zahlreiche Bürger*innen zu Wort kommen. Sie zeichnet nach, wie aus Vorbehalten Diskussionen werden – und am Ende Entscheidungen.

Schauen Sie sich die Beiträge ruhig in Ruhe an. Alle drei thematisieren Konflikte. In Beteiligungsprozessen, die eben Konflikte zuließen und den Umgang damit ganz bewusst förderten.

Sie zeigen uns: Presse und Partizipationsakteure sind sozusagen in derselben Branche tätig.

Wenn beide ihren Job gut machen, und das tun beide viel öfter, als ihnen oft zugebilligt wird, dann ist das gut für die Demokratie.

Nicht schmerzfrei. Aber gut.

Herzlichst, Ihr Jörg Sommer

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