Ausgabe #24 | 11. Juni 2020
Rechtsstaat oder Demokratie?
Unsere heutige Überschrift klingt etwas ketzerisch. Doch getreu der Philosophie, dass es keine dummen Fragen, sondern nur dumme Antworten gibt, wollen wir uns heute einmal mit dem Verhältnis von Rechtsstaat und Demokratie beschäftigten.
Wie heißt es so schön: Wir leben in einem demokratischen Rechtsstaat. Ohne im Alltag darüber nachzudenken, nennen wir diese beiden Wörter immer wieder in einem Atemzug. Für uns gehören diese Prinzipien irgendwie zusammen.
Aber muss das so sein? War das immer so? Ist das eine ohne das andere denkbar? Ist es sinnvoll? Bedingen sich die beiden Prinzipien gegenseitig? Fördern sie sich? Oder behindern sie sich gar?
Schauen wir zunächst einmal auf die Essenz der beiden Prinzipien, die „reine Lehre“ sozusagen:
- Das Rechtsstaatsprinzip verlangt, dass die Ausübung aller staatlichen Gewalt umfassend an das Recht gebunden werden soll.
- Das Demokratieprinzip besagt, dass die Macht in einem Staat vom Volk ausgeht, das diese entweder unmittelbar (direkte Demokratie) oder durch Auswahl entscheidungstragender Repräsentanten (repräsentative Demokratie) ausübt.
Dass diese beiden Prinzipien umfassende Wechselwirkungen haben, wird auf den ersten Blick klar. Aber bedingen sie sich auch gegenseitig? Was sagt unser Grundgesetz dazu?
Gar nichts.
Der Artikel 20 GG legt unsere Staatsform ausdrücklich fest und beschreibt sie so: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“. Weder hier noch an einer anderen Stelle wird das Rechtsstaatsprinzip ausdrücklich erwähnt.
Das heißt natürlich nicht, dass unsere Gründerväter (und die wenigen Gründermütter), keinen Rechtsstaat wünschten. Erstaunlich ist es aber schon, dass so kurze Zeit nach dem Zusammenbruch des Unrechtsregimes der Nazis das Rechtsstaatsprinzip keine ausdrückliche Erwähnung fand.
Staatsrechtler und Demokratietheoretiker haben darüber auch immer wieder intensiv gestritten. Die allgemeine Lesart ist die, dass sich die große Mehrheit des damals beschließenden „Parlamentarischen Rates“ schlicht keine Demokratie ohne Rechtsstaatlichkeit vorstellen konnte.
Pikant bleibt allerdings bis zum heutigen Tage, dass dieses Grundgesetz zwar den Rechtsrahmen unserer Demokratie definiert, allerdings bis heute keine über den Beschluss der indirekt gewählten Ratsmitglieder hinausgehende demokratische Legitimation hat. Eine Tatsache, die nicht nur die sogenannten Reichsbürger immer wieder als Grundlage ihrer Ablehnung unserer Demokratie heranziehen. Doch das ist ein anderes Thema.
Tatsächlich ist Demokratie ohne rechtsstaatlichen Rahmen nur schwer vorstellbar. Denkbar wäre dies z. B. in lokal organisierten direktdemokratischen Gemeinschaften, in denen die gesellschaftlichen Regeln ggf. immer wieder neu verhandelt und entschieden werden. Doch auch hier bleibt die Frage: Wie steht es mit dem Minderheitenschutz? So wie Freiheit laut Rosa Luxemburg immer „die Freiheit des Andersdenkenden“ ist, so hat natürlich Rechtsstaatlichkeit immer das Recht der Minderheit im Blick.
Umgekehrt ist die Phantasie durchaus größer: Natürlich ist eine rechtsstaatlich organisierte Monarchie, selbst eine Aristokratie nach rechtsstaatlichen Prinzipien denkbar. Die (sehr vereinfachte) Kurzfassung lautet also:
Recht braucht keine Demokratie.
Demokratie braucht Recht.
Und jetzt wird es spannend, denn Recht und Demokratie regeln Konflikte und treffen Entscheidungen auf unterschiedliche Art und Weise: Im Recht ist es die Rechtsprechung, in der Demokratie die politische Meinungsbildung, also Diskurs und Wahlen.
Daraus ergibt sich ein Spannungsfeld, das sich bis in die höchsten gesellschaftlichen Instanzen zieht: Gerade das deutsche Bundesverfassungsgericht kassiert immer wieder Entscheidungen des demokratisch gewählten Bundestages. Das Recht dominiert hier also die Demokratie. Und das ist durchaus gut so. Tatsächlich hat sich das in der Vergangenheit häufig als demokratiefördernd und zugleich systemstabilisierend erwiesen.
Es bleibt jedoch bei solchen Entscheidungen ein bitterer Nachgeschmack: Gesellschaftliche Herausforderungen konnten nicht final deliberativ aufgelöst und/oder demokratisch entschieden werden. Es bedurfte eines Richter*innenspruchs. Einer Entscheidung Einzelner, die sich dafür in keiner Wahl und keinem/r Wähler oder Wählerin gegenüber rechtfertigen müssen. Das ist weit entfernt von demokratischer Kultur, aber offensichtlich hin und wieder nötig. Unter Demokratiegesichtspunkten ist dies jedoch immer nur die ultima ratio.
Rechtsstaatlichkeit sollte in einer demokratischen Gesellschaft immer nur eine Art Unfallversicherung darstellen, die Schlimmes verhindert, aber nicht den Anspruch hat, alles zu regulieren.
Das klingt abstrakt, wird jedoch immer dann konkret, wenn wir versuchen, Herausforderungen tatsächlich deliberativ zu lösen. Ganz besonders gilt dies für viele Prozesse der Bürgerbeteiligung.
Beteiligungsprozesse, über denen ständig das Damoklesschwert eines Richterspruches schwebt, können ihre Kraft kaum entfalten. Dafür gibt es viele Gründe: Was rechtlich klar geregelt ist, wird in der Regel gar nicht erst zu einem Beteiligungsthema. Wer glaubt, seine Interessen auf dem Rechtswege durchsetzen zu können, verspürt keinen Beteiligungsanreiz. Wer Angst vor rechtlichen Folgen hat, hält sich in Diskussionen mehr zurück, als es einer offenen Debatte gut täte.
Das diese Erwägungen nicht rein akademisch ist, belegen die folgenden Beispiele:
- Vor einiger Zeit beobachtete ich eine Bürgerversammlung zu einem großen Vorhaben der Energiewirtschaft. Ich saß, um nicht weiter aufzufallen, in der letzten Reihe. Neben mir eine gut gekleidete Dame. Vorne auf dem Podium mühte sich das Vorstandsmitglied eines großen Energieversorgers redlich, im Fragengewitter der Bürger*innen zu bestehen. Irgendwann fiel mir auf, dass der Energiemanager nach jeder Frage kurz in meine Richtung blickte. Bevor er dann ein Kärtchen aus seinen Unterlagen nahm und den Inhalt mehr oder weniger geschickt ablas. Die Antworten waren wachsweich, unverbindlich und sorgten im Publikum abwechselnd für Erheiterung oder Unmutsbekundungen. Es dauerte, bis ich erkannte: Er sah nicht zu mir, sondern zu meiner Sitznachbarin. Und die hob entweder unauffällig entweder die rechte oder die linke Hand. In der Pause nutzte ich die Chance, um die Dame, die offensichtlich entschied, welche Antworten auf dem Podium gegeben wurden, etwas auszuquetschen. Sie war, anders als vermutet, kein Kommunikationsprofi, sondern arbeitete für den Energieversorger – in der Rechtsabteilung. Ihr einziger Auftrag war offensichtlich dafür zu sorgen, dass keine rechtlich angreifbaren Aussagen getroffen werden.
- In Kürze findet erstmals ein Online Parlamentarischer Abend der Dialoggesellschaft und des Berlin Instituts für Partizipation statt. Thema ist die Beschleunigung großer Infrastrukturvorhaben. In der Politik wird darüber diskutiert, nicht nur bürokratische Hemmnisse abzubauen, sondern auch den Rechtsweg zu beschneiden. Nun sagen ausgerechnet Vertreter der Vorhabenträger, dass ein Ausbau der Bürgerbeteiligung solche Vorhaben ebenfalls beschleunigen könnte. Doch welche der Maßnahmen ist am wirkungsvollsten? Zudem gibt es Kritiker, die vermuten, hier solle Bürgerbeteiligung gegen Rechtsstaatlichkeit ausgespielt werden. Die Diskussion ist also konkret. Und sie verspricht, spannend zu werden.
Die Frage ist: Wie können sich Rechtsstaat und demokratische Kultur gegenseitig fördern? Wie können wir partizipative Prozesse so gestalten, dass sie vom Recht nicht erdrückt werden, dass sie Gemeinwohl durch Diskurs generieren, statt die Entscheidung an Berufsrichter zu delegieren?
Es gibt Lösungsstrategien. Manche davon wurden sogar schon im Parlament verhandelt. Doch darüber sprechen wir in der kommenden Woche. Für heute habe ich Ihre Geduld genug erschöpft.
Doch machen wir aus der Notwendigkeit eine Chance: Wenn Sie mögen, schreiben Sie mir Ihre Meinung, ich werde versuchen, in der nächsten Ausgabe von demokratie.plus darauf einzugehen.
Herzlichst, Ihr Jörg Sommer