Ausgabe #30 | 23. Juli 2020
Wer fragt, muss auf die Antwort warten
In meiner Familie wurde viel gespielt. Egal ob Ball-, Brett- oder Kartenspiele – unsere Familie war hochgradig ludifiziert. Bis ungefähr zu meinem 14. Lebensjahr hatten die meisten Spiele das gleiche Ergebnis: Mein Vater gewann. Doch dann änderte sich das schlagartig. Alle Spieleabende endeten plötzlich auf eine neue Art: Irgendwann packte mich der Zorn und ich fegte Karten, Figuren, Würfel oder Bretter in hohem Bogen vom Tisch. Das machte meine Familie natürlich nicht lange mit. Und so endeten irgendwann in den Siebzigern unsere Familienspielabende ziemlich unspektakulär.
Warum berichte ich Ihnen davon in einem Demokratie-Newsletter?
Das große Spiel
Weil Spielen sehr viel mit Demokratie zu tun hat. Es gibt Regeln, wetteifernde Akteure, kluge Strategien und dämliche Taktiken, es gibt Siege und Niederlagen. Und es gibt manchmal Menschen, die dazu neigen, alles vom Tisch zu fegen.
Es gilt für Spiele genau so wie für Wahlen und andere Formen demokratischer Teilhabe: Theatralische Ausstiege ruinieren die Stimmung, provozieren Konflikte, helfen am Ende aber nicht.
Umgekehrt lohnt sich natürlich der Blick auf die Motive von Spiel-, Wahl- und Beteiligungsaussteigern. Nicht immer ist es pubertierende Ungeduld. Es kann auch daran liegen, dass die Betreffenden sich nicht genug wertgeschätzt fühlen, dass die Regeln ungerecht sind, oder andere Gründe vorliegen.
Stellen wir uns zum Beispiel ein Spiel vor, indem ein Spieler die Regeln festlegt, schon mal die ersten drei Runden alleine spielt und Punkte einheimst. Erst dann lädt er die anderen zu „seinem“ Spiel ein, erklärt die Regeln für nicht verhandelbar, behält sich vor, am Ende kein Ergebnis zu akzeptieren, bei dem er nicht der Gewinner ist. Unvorstellbar?
Tatsächlich sind vergleichbare Settings in der Bürgerbeteiligung durchaus schon vorgekommen. Deshalb lautet der vierte Grundsatz Guter Beteiligung der Allianz Vielfältige Demokratie:
„Gute Bürgerbeteiligung beginnt frühzeitig und verpflichtet alle Beteiligten.“
Auch wenn es zwei Anforderungen sind, die hier zusammengefasst sind, so sind sie es aus gutem Grund, denn das eine (Verpflichtung) ist ohne das andere (Frühe Beteiligung) nicht wirklich denkbar. Hintergrund der Forderung nach früher Beteiligung ist das sogenannte Beteiligungsparadoxon: Je früher in einem Prozess die Beteiligung beginnt, desto größer ist der Spielraum. Solange Straßen, Windräder, Flughäfen oder Bahnhöfe geplant werden, ist Raum für alternative Lösungen. Rollen die Bagger erst einmal an, gibt es nicht mehr viel zu beteiligen.
Das Paradoxon entsteht, weil gerade in den frühen Planungsphasen die meisten potentiell Betroffenen noch überhaupt nichts von dem Vorhaben ahnen. Deshalb ist es so wichtig, dass Frühe Beteiligung nicht nur als Angebot verstanden wird, sondern als Bringschuld.
Früh zu beteiligen heißt, potentiell Betroffene frühzeitig aktiv anzusprechen, einzuladen, zu konsultieren. Das gilt in besonderem Maße für jene, die Beteiligungsexperten „Stille Gruppen“ nennen. Gruppen also, die aufgrund von Alter, Sprache, Kultur, Bildung oder anderer Kriterien weniger offensiv auftreten, weniger an politischen Prozessen teilnehmen und auch weniger repräsentiert sind. Gute Beteiligung ist eben nur Beteiligung, die auch tatsächlich stattfindet, nicht eine, die theoretisch hätte stattfinden können. Wer erst beteiligt wird, wenn die relevanten Entscheidungen schon gefallen sind, wird sich damit schwer tun, die Ergebnisse mitzutragen. Doch darum geht es.
Verpflichtung ist keine Forderung, sondern ein Ergebnis
Denn am Ende von Beteiligungsprozessen steht selten ein Konsens, oft ein Kompromiss, manchmal sogar die bestmögliche Lösung. Für die meisten Beteiligten ist dies aber meist nicht genau die Vorstellung, mit der sie in den Prozess hineingegangen sind. Um so wichtiger ist es, dass die Diskussionen früh, fair, wertschätzend geführt wurden. Nur dann ist das Ergebnis eines, dem sich die Beteiligten verpflichtet fühlen können.
Und wenn es am Ende dann dennoch Akteure gibt, die das Ergebnis auf anderem Wege kippen wollen, so zeigen zum Beispiel die Untersuchungen des Kommunikationswissenschaftlers Dr. Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim, dass Ergebnisse Guter Beteiligung eine hohe Resilienz aufweisen und in der Regel auch bei folgenden direktdemokratischen Entscheidungen (Bürgerentscheid, Bürgerbegehren u.a.) bestehen.
Solche Ergebnisse sind es dann aber auch Wert, Berücksichtigung zu erfahren. Gute Bürgerbeteiligung ist eng verknüpft mit bestehenden Entscheidungsstrukturen: Die Entscheidungsträger legen gegenüber den Beteiligten und der Öffentlichkeit Rechenschaft darüber ab, ob und wie die Ergebnisse des Beteiligungsprozesses in die Umsetzung des Projektes einfließen. Falls Sie bei Ihren Beschlüssen von den Ergebnissen des Beteiligungsprozesses abweichen, informieren Sie über die Gründe hierfür. Und vor allem: Sie treffen während des Beteiligungsprozesses keine politischen Entscheidungen im Zusammenhang mit dem Beteiligungsgegenstand. Denn wer fragt, muss auch auf die Antwort warten können. Und er muss auf die Antwort eingehen.
Beteiligung jenseits von Wahlen ist etwas, was wir alle zusammen gerade erst lernen. Das gilt für Beteiligende wie für Beteiligte. Bürgerinnen und Bürger, die Zeit und Energie in einen Beteiligungsprozess investieren, dessen Ergebnisse dann versacken oder ignoriert werden, sind für einen weiteren Prozess kaum zu gewinnen. Machen sie aber positive Erfahrungen, werden sie zu Fürsprechern und Multiplikatoren.
Demokratie und demokratische Teilhabe haben viel mit Spielen gemeinsam. Aber sie sind kein Spiel. Es geht hier um mehr, um unsere Lebensqualität und um die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft. Je mehr, je früher, je besser wir beteiligen, desto mehr lernen wir alle miteinander. So entwickeln wir uns und unsere Demokratie weiter.
Übrigens: Auch ich habe mich weiterentwickelt. Heute spiele ich wieder mit meinen betagten Eltern. Zuletzt erst am vergangenen Sonntag. Ganz ohne Drama. Und diesmal habe ich gewonnen. Ganz knapp vor meinem Vater.