Ausgabe #41 | 8. Oktober 2020
Verwirrte und Verirrte
Der Streit um die Debattenkultur ist so alt, wie die Debatte selbst. Das Idealbild des scharfen Disputs, in dem am Ende die besseren Argumente siegen, hat mit der Realität nur selten etwas zu tun.
Es gibt rhetorische Kniffe, unfeine Tricks und allerhand Möglichkeiten für erfahrene Redner, trotz schwächerer Argumente zu bestehen. In Ländern wie den USA wird das sogar im Bildungssystem trainiert. Rednerdebatten, bei denen die Diskutanten erst kurz vorher die Position erfahren, die sie vertreten sollen, sind nur eine Form, die in den Vereinigten Staaten sogar als „Demokratietraining“ hohes Ansehen genießen.
Die Grenze zwischen je nach Sichtweise begnadeter oder skrupelloser Rhetorik und dem, was nicht mehr als tolerabel gilt, ist dabei fließend, und sie ist aktuell auch im Fluss.
Donald Trump ist einer der Akteure, die diese Grenze systematisch verschieben, wir haben es in der vergangenen Woche gesehen – und in der vergangenen Ausgabe unseres Newsletters genauer angeschaut.
Doch diese fließende Grenze, die durch immer neue Grenzüberschreitungen weiter an Dynamik gewinnt, ist kein Phänomen, dass nur auf den US-Präsidenten oder die politische Kultur der USA zutrifft.
Wir erleben sie auch in unserem Land – und das längst nicht nur im Bundestag oder in den Medien. Beobachten können wir sie überall, wo widersprüchliche Meinungen aufeinandertreffen.
Das gilt auch für Prozesse, die wir eigentlich starten, um die Demokratie in unserem Land zu fördern. Doch verbale (und manchmal auch körperliche) Eskalationen fordern uns heraus.
Erst kürzlich war ich zu einer Fortbildung in einer westdeutschen Großstadt eingeladen. Die Teilnehmer*innen waren keine Beteiligungsprofis, sondern Mitarbeiter*innen der Stadt, die in Beteiligungsverfahren als Vertreter*innen der Verwaltung beteiligt waren, einige davon schon seit vielen Jahren. Sie berichteten übereinstimmend, dass sich der Ton in jüngster Vergangenheit drastisch verschärft habe, oft sei eine inhaltliche Debatte kaum möglich, manchmal würden die Diskussionen binnen weniger Minuten bis zu körperlicher Gewaltandrohung eskalieren. Einige berichteten von zunehmenden Ängsten im Vorfeld von solchen Terminen.
Tatsächlich ist dies eine Herausforderung, die in Deutschland aktuell flächendeckend zu beobachten ist: Je erfolgreicher Bürgerbeteiligung in der Breite wird, je umfassender die Chance ist, dort unmittelbar mit Vertreter*innen von Politik und Verwaltung ins Gespräch zu kommen, je mehr darüber in den Medien berichtet wird, desto mehr ziehen solche Angebote auch Menschen an, die weniger am Diskurs, sondern mehr an einer Plattform interessiert sind.
Doch das erklärt die Entwicklung nicht in Gänze, es hat auch etwas mit dem kollektiven Verlernen vom Umgang mit Andersdenkenden zu tun. Die Gründe hierfür haben wir in der letzten Woche ja intensiver betrachtet.
Was die Teilnehmer*innen unseres Seminares anging, wollten die natürlich gerne wissen, wie sie mit solchen Menschen umgehen sollen. Der Wunsch nach universellen Tipps war verständlich, aber ganz so einfach sollten wir es uns nicht machen: Denn wir als Beteiliger erleben solche Menschen zunächst einmal als „Störung“.
Doch jeder Elektriker weiß: Fliegt die Sicherung raus, kann das viele Ursachen haben. Entsprechend braucht es unterschiedliche Lösungsstrategien. Die Sicherung einfach wieder reinzudrücken, ist die naheliegende Versuchung, doch die denkbar wirkungsloseste Antwort.
Wir haben dann gemeinsam eine kleine Typologie solcher Störungen entwickelt und dabei rasch erkannt, dass die Motive der Akteure sich teilweise erheblich unterscheiden. Hier nun unsere kleine Typenkunde, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Alleingültigkeit erhebt:
- Der Frustrierte
- Der Engagierte
- Der Dominante
- Der Ungehobelte
- Der Egozentriker
- Der Verwirrte
- Der Verirrte
Übrigens habe ich bei dieser Typologie auf das korrekte Gendern nicht ohne Grund verzichtet: Wir haben es in all diesen Fällen weit überwiegend mit Männern zu tun.
Schauen wir uns also die unterschiedlichen Typen kurz genauer an:
Der Frustrierte ist nicht da, weil er nach Lösungen sucht, andere Meinungen sucht oder auch nur am Thema interessiert wäre. Er hat Frust. Und der muss raus. Häufig geht es um ein völlig anderes Thema, das nichts mit der aktuellen Agenda zu tun hat. Es kann völlig andere Akteure der Verwaltung betreffen, lange zurückliegen oder ganz frisch sein. Gemein ist allen Betroffenen eines: Sie fühlen sich hilflos, sind zornig und sehen keine Möglichkeit, ihr Anliegen auf eine andere Art angemessen behandelt zu sehen. Wie heftig dieser Konflikt dann unmittelbar ausartet, hängt wie bei allen anderen Fällen überwiegend vom Charakter des Betreffenden, aber auch von der Reaktion der Moderation ab.
Was nicht hilft: Auf Thema oder Tagesordnung hinweisen, um Einhalten der Regeln bitten, in das Thema des Betroffenen einsteigen.
Was (meist) hilft: Konkretes Angebot machen, „sein“ Thema zeitnah mit einem passenden Ansprechpartner zu diskutieren. Ggf. direkt konkret vereinbaren.
Der Engagierte ist beinahe das Gegenteil des Frustrierten. Er will sich mit dem Thema beschäftigen, hat das oft schon intensiv, weiß mehr als die meisten anderen Anwesenden, will Ergebnisse. Und das schnell. Entsprechend ungnädig reagiert er, wenn die Beteiligten kollektiv didaktisch oder gar als unmündig behandelt werden.
Was nicht hilft: Sich auf Autoritätsspiele einlassen, auf Wissenslücken hinweisen, ausbremsen.
Was (oft) hilft: Wissen anerkennen, comoderierende Rolle anbieten, darauf hinweisen, dass wir mit – gerne seiner Hilfe – daran arbeiten wollen, alle auf den gleichen Stand zu bringen.
Der Dominante ist ein gänzlich anderer Fall: Er will nicht stören, er kann nur nicht anders. Er ist gewöhnt, die Menschen um sich zu dominieren, ein typischer „Chef“ in Beruf und Familie, Diskussion sind dann für ihn gut, wenn er 80% der Redezeit bestreitet und am Ende alle seiner Meinung sind. Er praktiziert typisch toxisch-männliche Diskurskultur, kann kaum ausreden lassen und sieht Moderatoren als Konkurrenz um die Leitwolfrolle.
Was nicht hilft: Sich auf Zweikämpfe einlassen, nachweisen, dass er keine Ahnung vom Thema hat. An Fairness und Zurückhaltung appellieren.
Was (oft) hilft: Zunächst genügend Raum lassen, damit der Rest der Gruppe sich seine eigene Meinung bildet, dann das Thema an die Gruppe delegieren und gemeinsam klären, dass die Regeln für alle gelten.
Der Ungehobelte hat schlicht keine Diskussionsmanieren. Er unterbricht andere, hält sich nicht an Diskursregeln wie der Dominante, er tut dies aber nicht, weil er dominieren will (das ist ihm völlig egal), sondern weil er schlicht nicht gelernt hat, anderen Menschen mit Respekt zu begegnen. Auch wenn das Verhalten zunächst dem des Dominanten ähnelt, erfordert es einen völlig anderen Umgang. Kollektive Konfrontation nutzt hier wenig.
Was nicht hilft: Gruppendebatte über Diskurskultur.
Was (oft) hilft: Inhaltliche Wertschätzung durch die Moderation bei konsequenten und konkreten Hinweisen auf angemessenes Verhalten.
Der Egozentriker ist nicht Gast der Veranstaltung. Die Veranstaltung kreist um ihn. So wie der Rest der Welt. Er hat ein Thema. Das muss nicht das Thema der Veranstaltung sein. Es muss nicht einmal damit zu tun haben. Aber es ist sein Thema. Und nur wenn dieses Thema im Mittelpunkt steht, ist es eine gute Veranstaltung. Die gute Nachricht dabei: Gruppen erkennen Egozentriker in wenigen Minuten – und sie hassen sie.
Was nicht hilft: Eingehen auf Thema oder Provokationen.
Was (oft) hilft: Klären, dass dieses Thema nicht unser Thema ist, ggf. von der Gruppe bestätigen lassen. Häufiger Effekt: Der Egozentriker verlässt die Veranstaltung.
Der Verwirrte mag kurzfristig wie ein Egozentriker wirken, entpuppt sich dank wirrer Auftritte jedoch schnell nicht als Störer, sondern eher als Hilfloser. Seine Beiträge sind oft lang, aber weitgehend frei von logischem Aufbau oder Themabezug und mit hohem Fremdschämfaktor.
Was nicht hilft: Nachfragen oder Bezugnehmen. Rasches Unterbrechen oder endlose Geduld.
Was (oft) hilft: Anhören, nach angemessener Redezeit abmoderieren, dann individuell durch einen Helfer in ein Gespräch verwickeln und schauen, ob Hilfebedarf besteht.
Der Verirrte ist nicht verwirrt, sondern schlicht in der falschen Veranstaltung. Das kann viele Gründe haben, manchmal solch banale wie eine missglückte Einladung oder eine schräge Medienberichterstattung. Er kann wegen des falschen Themas anwesend sein oder weil er eine völlig andere Veranstaltung erwartet.
Was nicht hilft: Das Anliegen des Betreffenden befriedigen wollen, Thema oder Form zur Diskussion stellen.
Was (oft) hilft: Das mögliche Missverständnis direkt klären, Anliegen verifizieren und Lösung vorschlagen oder Kontakt vermitteln, dann zum eigentlichen Prozess zurückkehren.
Dies war die kleine Typologie der „Störungen“, die unsere Seminarteilnehmer*innen entwickelt haben und die ihnen zumindest sehr geholfen hat, Strategien zum Umgang damit zu entwickeln. Natürlich kann ein ganzer Seminartag nicht erschöpfend in einem kurzen Newsletter zusammengefasst werden.
Deshalb fehlen Ihnen vielleicht bestimmte „Typen“, oder Sie haben andere, bessere Antworten auf die Herausforderungen. Ich freue mich, wie immer, auf Ihre Ergänzungen, Anmerkungen, Fragen und Kritik.
Und vor allem: Bleiben Sie gesund!
Herzlichst, Jörg Sommer