#49 | Es geht doch

In Krisen braucht es keine Diskussionen, sondern Führung. Doch das stimmt nur bedingt.

Ausgabe #49 | 3. Dezember 2020

Es geht doch

In Stuttgart können sie es. Das ist keine Überraschung. Sie können es aber auch in Augsburg, in Oestrich-Winkel und in anderen deutschen Kommunen. Ebenso wie in der Schweiz, in Frankreich und in anderen Ländern.

Sie können etwas, was angeblich nicht geht: Bürger*innen beteiligen IN der Krise ZUR Krise.

Das jedenfalls war die nahezu einhellige Reaktion aus der Politik auf meinen Vorschlag zu Beginn der Corona-Pandemie, noch vor dem ersten Lockdown. Damals brachte ich einen „Bürgerrat Corona“ ins Spiel, denn es war bereits abzusehen, dass die Bewältigung der Krise durchaus dramatische Eingriffe in unseren Alltag nötig machen würde.

Das war lange vor dem Höhepunkt der „Querdenker“-Bewegung (von der wir noch gar nicht wissen, ob sie den Höhepunkt bereits erreicht hat). Doch die überkommende politische Lehre besagt: In der Krise braucht es keine Debatten, sondern Führung.

Da ist was dran. Insbesondere dann, wenn es um zeitlich sehr begrenzte Krisen geht, in denen zudem eine schnelle Reaktion erforderlich ist. Diese Krise ist aber anders. Sie ist eben kein Erdbeben, keine Überschwemmung, kein Hurrikan. Bei Naturkatastrophen zählt jede Stunde, der Schaden kommt schnell und heftig, zur Bewältigung braucht es ebenso rasche Reaktionen, die Herausforderungen sind eher technischer und logistischer Art.
Die Corona-Pandemie ist in vielem das Gegenteil. Sie dauert eine gefühlte Ewigkeit und ist nur mit einer Verhaltensänderung vieler zu bewältigen. Das Virus stellt keinen permanenten Ausnahmezustand dar, weil wir nicht nur nach, sondern bereits in der Krise wirtschaften, lernen, wählen, leben müssen.

Gleichzeitig ist der krisenbedingte Einschnitt in die Biografien vieler Menschen mindestens ebenso dramatisch wie bei einer „klassischen“ Naturkatastrophe. Für unsere Demokratie heißt das: Wir können nicht nur, wir müssen auch den Umgang mit der Krise selbst beteiligungsorientiert gestalten.

Und das geht.

Unsere Regeln sind seit Beginn der Krise immer eine Melange aus wissenschaftlicher Empfehlung, hochgradiger Vermutung und politischer Verhandlung gewesen. Sie haben sich nie direkt aus wissenschaftlicher Erkenntnis ergeben. Das macht sie für die davon zum Teil erheblich Betroffenen in der Wahrnehmung widersprüchlich, ungerecht, schwer nachvollziehbar.

Tatsächlich sind sie oft das Ergebnis von Verhandlungen, geleitet von Interessen, die viel mit Verantwortung, aber eben auch mit Angst, Zwängen, Karriereplanungen, gefühltem Volkswillen, Profilierungsvorhaben, Medienresonanz und – meist sehr unterschiedlichem – „gesunden Menschenverstand“ zu tun haben.

Leider finden diese Verhandlungen aktuell aber öffentlich wahrnehmbar nur zwischen den Ministerpräsident*innen und der Bundesregierung statt, kaum im Parlament und schon gar nicht in und mit der Bevölkerung.

Letzterer ist die Rolle der Weisungsempfängerin zugedacht. Das funktioniert selbst in akuten Krisen oft nur eingeschränkt. In Zeiträumen, die am Ende weit länger als ein Jahr betragen, bröckelt jede Bürgerdisziplin.

Die Folgen sind bekannt.

Höchste Zeit also, in Sachen Demokratie den „Augen-zu-und-durch-Modus“ zu beenden. Noch sind die Angebote an Bürger*innen, sich an der gesellschaftlichen Aushandlung unseres gemeinsamen Krisenmanagements zu beteiligen, zögerlich, aber erste Kommunen und Länder gehen voran.

In Baden-Württemberg startet in Kürze das Bürgerforum Corona: Die Landesregierung, organisiert von Staatsrätin Gisela Erler und ihrem Team, beteiligt rund 50 zufällig ausgewählte Einwohner*innen. Die Aufgabenbeschreibung liest sich spannend: „Das Bürgerforum Corona soll Meinungen und Stimmungen zusammentragen und sichtbar machen. Die Landesregierung will genau zuhören, wie die Menschen die Lage empfinden und welche Bedürfnisse sie haben. Wie haben die Menschen die bisherige Entwicklung wahrgenommen? Was erwarten sie von der Landesregierung? Das sind Fragen, die im Bürgerforum besprochen werden sollen.“

Das Bürgerforum Corona trifft sich voraussichtlich monatlich, verteilt über ein Jahr. Es begleitet also die Pandemiemaßnahmen langfristig.

Im bayerischen Augsburg arbeitet bereits ein „Bürgerbeirat Corona“. Er ist mit Mandatsträger*innen sowie Expert*innen aus der Stadtverwaltung und auf der anderen Seite mit Bürger*innen besetzt. Er hat also tatsächlich einen deliberativen Charakter und ist kein reines „Meckergremium“.

In Oestrich-Winkel gab es im Sommer bereits einen digitalen Bürger-Dialog mit Unterstützung der Bertelsmann-Stiftung. Dort ging es um die Frage, wie in der Kommune ein Minimum an öffentlichem Leben und kulturellen Angeboten in der Pandemie aufrechterhalten werden kann.

Leider ist die Liste damit schon weitgehend vollständig. Es sind bislang nur punktuelle regionale Angebote, die aber ausschließlich positive Resonanz erfahren haben.

Sie sollten uns und insbesondere den Verantwortlichen Mut machen, die Debatte in die Breite zu tragen. Corona ist eine internationale Herausforderung, da ist zumindest ein nationaler Dialog überfällig.

Ein erster Schritt könnte sein, das Thema des aktuell geplanten ersten Bürgerrats zu „Deutschlands Rolle in der Welt“ noch einmal zu hinterfragen. Vielleicht haben wir ja gerade ein dringenderes Thema mit weitaus größerer Bedeutung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf dem Tisch …

Unabhängig davon gibt es keine Kommune in Deutschland, die nicht von der Pandemie betroffen ist. Es gibt keine Kommune, die nicht die aktive Mitwirkung ihrer Bürger*innen braucht, um die Pandemie zu überstehen.

Es gibt keine Kommune, die nicht gut beraten wäre, ihre Bürger*innen an diesem Prozess aktiv zu beteiligen.

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