#62 | Teilhabe oder Taschengeld?

Eine Möglichkeit zu echter, wirkungsvoller Teilhabe sind Bürgerhaushalte. Aber nur, wenn sie gut gemacht sind.

Ausgabe #62 | 11. März 2021

Teilhabe oder Taschengeld?

Heute wollen wir über einen aktuellen Trend in deutschen Kommunen sprechen: Bürgerhaushalte. Sie erfreuen sich wachsender Beliebtheit – in durchaus sehr unterschiedlichen Ausprägungen.

Es gibt Kommunen, in denen intensive Beteiligungsprozesse in konkrete Haushaltsposten münden, anderswo erinnert das Modell eher an ein betriebliches Vorschlagswesen oder eine vorweihnachtliche Wunschliste. Es gibt auch Varianten, die sich als eintägiges Crowdfunding-Event für lokale Vereine präsentieren. Und in einigen Kommunen geht es schlicht um das Zusammentragen von Einsparpotential zur Sanierung klammer Kassen.

Es ist wie so oft: Unter dem gleichen Etikett kann sich ein hochwertiges, partizipatives Konzept verbergen – oder ein mehr oder weniger intelligenter PR-Gag.

Was also ist ein Bürgerhaushalt? Was macht ihn aus? Was macht ihn erfolgreich? Und was heißt „Erfolg“ eigentlich in diesem Zusammenhang?

Spannend ist in solchen Fällen immer ein Blick zurück auf die Entstehung des Modells. Und dabei wird uns Einiges bekannt vorkommen:

Die regierende Partei war von Korruption durchsetzt. Ihre Politiker*innen füllten sich selbst in schlimmen Krisenzeiten die Taschen, die öffentlichen Finanzen wurden zum Selbstbedienungsladen. Die Bürger*innen waren frustriert, begehrten auf.

Wir sprechen vom Jahr 1988 und befinden uns in der brasilianischen Stadt Porto Alegre. In diesem Jahr gibt es bei den Kommunalwahlen einen Erdrutschsieg für ein linkes Bündnis unter starkem Einfluss der Kommunistischen Partei, getragen aber maßgeblich von einer Kampagne vieler zivilgesellschaftlicher Gruppen.

Die Kommunist*innen träumen von Räten nach sowjetischem Vorbild, aber die zivilgesellschaftlichen Akteure verlangen nach echter Basisbeteiligung. Also einigt man sich darauf, die ausgeplünderte öffentliche Kasse nach einem neuen Modell zu verwalten: Es soll ein Haushalt der Bürger*innen werden.

In zahlreichen Teilkonferenzen werden basisdemokratisch Schwerpunkte definiert. Per Delegation wird ein zentraler Rat gebildet, bei dem die Stimmen nach neuen Kriterien wie Bevölkerungszahl, Investitionsbedarf im Stadtteil u. a. gewichtet werden.

Am Ende werden so die Schwerpunkte des öffentlichen Haushalts definiert. Das funktioniert erstaunlich gut. Finanzmittel werden dorthin geleitet, wo sie am dringendsten benötigt werden, Korruption wurde deutlich reduziert, das Vertrauen der Zivilgesellschaft in ihre Parlamentarier deutlich erhöht.

Am Ende kam es so in Porto Alegre zu einer über 16 Jahre dauernden Periode einer blühenden Zivilgesellschaft.

Das Beispiel machte Schule. Immer mehr Kommunen weltweit wagten ähnliche Prozesse. Dort, wo es nicht mit Machtwechseln einherging, fielen die Reformen zwar deutlich zurückhaltender aus, aber das Konzept des Bürgerhaushaltes als demokratische Beteiligungsform gewann an Attraktivität.

Die kam irgendwann auch in Deutschland an. Allerdings sind unsere politischen Verhältnisse stabiler, unsere Politiker*innen (in der Regel) weniger korrupt, unsere kommunalen Haushaltsgesetzgebungen restriktiver.

Deshalb haben sich bei uns diverse Varianten entwickelt, von denen keine einzige so radikal basisdemokratisch aufgestellt ist wie das Original. Was in Deutschland Bürgerhaushalt heißt, ist anders als das, was noch heute in Südamerika darunter verstanden wird.

Das Berlin Institut für Partizipation hat heute eine Studie dazu veröffentlicht. Sie untersucht quantitativ und qualitativ, wie es um Bürgerhaushalte bzw. besser gesagt Bürgerbudgets in Deutschland bestellt ist. Wie die Praxis aussieht, welche Wirkungen sie haben und welche Ansätze vielversprechend sind. Gefördert wurde die Studie über die Akademie für Lokale Demokratie vom Staatsministerium für Soziales und gesellschaftlichen Zusammenhalt des Freistaates Sachsen.

Die Lektüre lohnt sich, denn die Ergebnisse sind recht eindeutig, die Empfehlungen sehr praxisnah.

Tatsächlich löst die Studie einige klassische Missverständnisse auf: Das, was in Deutschland Bürgerhaushalt heißt, ist meist nur ein mehr oder weniger aufwändiges bürgerliches Vorschlagswesen.

Deliberative Prozesse, die tatsächlich eine echte über Beteiligung realisierte Finanzverteilung organisieren, sind bei uns unter dem Titel „Bürgerbudgets“ bekannt. Die Prozesse und Formate sind dabei sehr unterschiedlich. Es gibt kleine, smarte, eintägige Formate und komplexe Prozesse. Auch die Volumen variieren stark. Meist ist es nur ein sehr kleiner Anteil des kommunalen Haushaltes, in einigen Kommunen aber durchaus eine wirksame Summe.

Nicht jedes Bürgerbudget ist dabei wirklich gelungen. Manchmal ist es eher eine Art Vereinsfinanzierung nach Mobilisierungspotential, anderswo stehen die Beträge in keinem Verhältnis zu den benötigten Mitteln. In manchen Kommunen ist gar das erklärte Ziel der Verwaltung, den Bürger*innen didaktisch zu vermitteln, dass kein Geld für Gedöns vorhanden sei. Bisweilen ähnelt der Prozess einer perfiden Taschengeldverteilung: „Hier habt ihr 5 Euro. Streitet euch drum“.

In den meisten Kommunen aber wird der Prozess sehr ernsthaft und engagiert organisiert – und auch als sehr aktivierend und demokratiefördernd wahrgenommen.

Letztlich zeigt die empfohlene Studie eins: Bürgerbudgets sind ein starkes Format, um kommunale Beteiligung zu entwickeln und einem breiten Einwohner*innenkreis zugänglich zu machen. Sie eignen sich durchaus auch als Einstieg einer Kommune in Beteiligungsprozesse. Sie wirken potentiell positiv auch auf die Bereitstellung und Akzeptanz weiterer Beteiligungsmöglichkeiten und sind im Idealfall damit verzahnt.

Bürgerbudgets haben großes Potential. Wo es sie noch nicht gibt, sollten Kommunen sie erwägen und Bürger*innen sie einfordern.

Sie sind zwar nicht der Gipfel der demokratischen Mitwirkung, aber ein ganz hervorragender Katalysator für eine partizipative Kommune.

Und darum geht es.

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