#63 | Warum keine Wahlpflicht?

Die Mehrheit der Menschen nimmt an der Demokratie nicht teil. Das ist gefährlich. Würde eine Wahlpflicht helfen?

Ausgabe #63 | 18. März 2021

Warum keine Wahlpflicht?

Wenn „Freiheit immer die Freiheit der Andersdenkenden ist“, wie Rosa Luxemburg sagte, dann zeigen uns Corona-Querdenker*innen und Impfverweiger*innen Tag für Tag: Wir leben in einer außerordentlich freien Gesellschaft.

Wie lange wir uns das in Zeiten der Pandemie leisten können und wollen, ist eine andere Frage.

Noch herrscht Impfstoffmangel: Noch läuft die Impfkampagne alles andere als rund. Sobald genügend Impfstoff da ist, wird aber auch die Frage der Impflicht wieder an Dramatik gewinnen.

Dabei sind die Ängste der Menschen durchaus ernst zu nehmen. Verunsichert bezüglich der Wirkung, in Angst vor gefährlichen Nebeneffekten, mit erodiertem Vertrauen in unsere politischen Eliten sind die hohen Raten an Impfverweigerung nicht verwunderlich.

Nicht ohne Grund ist eine Impfpflicht aktuell für fast alle politisch Verantwortlichen kein Thema.

Dafür wird nach den Wahlen am vergangenen Sonntag wieder einmal über eine Wahlpflicht diskutiert. Tatsächlich war die Wahlbeteiligung in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg alles andere als berauschend.

In meinem Heimatland Baden-Württemberg haben die Wahlhelfer*innen bei über 11 Millionen Menschen gerade mal 4,8 Millionen gültige Stimmen gezählt. Nicht einmal die Hälfte der Betroffenen, über deren Zukunft entschieden wurde, konnte oder wollte an dieser Entscheidung teilnehmen.

Jede/r zehnte, der oder die vor fünf Jahren noch zur Wahl ging, hat diesmal darauf verzichtet. Das traf ganz besonders die AfD. Und das ist, anders als am Wahlabend manche Politiker*innen und Journalist*innen behaupteten, nicht unbedingt eine gute Nachricht.

Es ist ja nicht so, dass aus den AFD-Wähler*innen von 2016 nun plötzlich überzeugte Demokrat*innen geworden sind, die erkannt haben, was für eine gefährliche Truppe aus Rassisten, Nazis und Rechts-Populisten sie da ins Parlament brachten. Vielmehr scheinen nicht wenige Menschen, die auf die Wahl der AfD gesetzt hatten, nun selbst darin keinen Sinn mehr zu sehen. Sie haben sich mit der Verweigerung der Teilnahme an einer demokratischen Wahl der Demokratie kaum angenähert. Er dürfte das Gegenteil der Fall sein.

Eine halbe Million Wähle*innen weniger in nur einem Bundesland ist, unabhängig vom Ausgang der Wahl, definitiv ein Alarmsignal.

Bei Kommunalwahlen sieht die Bilanz noch frustrierender aus. Bei der jüngsten Kommunalwahl in NRW erreichten die Nichtwähler*innen eine Zahl von 6,958 Millionen und übertrafen damit die Zahl der Wähler*innen aller kandidierenden Parteien zusammen – und das bezogen auf die Wahlberechtigten, die ja ohnehin nur eine Teilmenge der Bevölkerung ausmachen.

Nach jeder Wahl wird diese Entwicklung kurz angesprochen, allgemein bedauert, gerne mal von Freude über sinkende Stimmen für Rechtsradikale überlagert – und dann gehen wir wieder zur Tagesordnung über.

Doch das ist fatal.

Es ist eben nicht so, dass die Hälfte der nichtwählenden Wahlberechtigten eigentlich alle überzeugte Demokrat*innen und zufriedene Bürger*innen sind, die nur deshalb nicht Wahl gehen, weil sie glauben, dass auch ohne ihre Stimme Deutschland gut regiert wird, ihnen das Wetter zu schlecht war oder sie gerade ihren Ausweis nicht finden konnten.

Weit überwiegend sind das Menschen, die keinen Sinn darin sehen, ihr demokratisches Recht wahrzunehmen.

Die Gründe dafür mögen vielfältig sein.

Klar ist aber: Rund die Hälfte der Bürger*innen haben nicht genügend Motivation, um ihre oft einzige Mitwirkungschance in unserer Demokratie zu nutzen.

Und genau das ist die Gefahr. Denn wir nennen uns Demokratie. Wir leben aber faktisch in weitgehend mitbestimmungsfreien Zonen. Unsere Wirtschaft kennt keine wirklich demokratischen Strukturen. In Schule, Studium, Ausbildung werden Inhalte, Prozesse, Hierarchien nicht nach demokratischen Prinzipien ausgehandelt. Echte, niederschwellige, wirksame Beteiligungsangebote erleben trotz vieler Bemühungen bis heute nur minimale Bruchteile der Bevölkerung.

Tatsächlich ist für die allermeisten Menschen in unserem Land die Teilnahme an einer Wahl die einzige demokratische Handlung, die sie ausüben. Und auch darauf verzichten je nach Region und Ebene die Hälfte oder mehr derjenigen, die das dürfen (und viele dürfen es gar nicht).

Die gute Nachricht lautet: Trotzdem funktioniert unsere Demokratie.

Die schlechte Nachricht lautet: Trotzdem funktioniert unsere Demokratie.

Denn das macht uns träge. Dabei existiert Demokratie auf Dauer nur, wenn es Demokrat*innen gibt. Die aber brauchen demokratische Erlebnisse. Wer keine demokratische Selbstwirksamkeit erfährt, verliert im besten Fall das Interesse an der Demokratie, im schlimmsten Fall wird er oder sie zu ihrem Gegner.

Wenn die Demokrat*innen in einer Demokratie zu Minderheit werden, ist es um ihre Zukunft schlecht bestellt.

Vor diesem Hintergrund klingt der Ruf nach einer Wahlpflicht plötzlich gar nicht mehr so absurd. Schließlich ist eine Wahl anders als eine Impfung nicht mit gesundheitlichen Risiken verbunden. Sie tut nicht weh. Alles, was wir dazu brauchen, steht an jedem Wahltag in ausreichender Menge für alle Wahlberechtigten zur Verfügung, alle denkbaren Nebenwirkungen sind positiv. Ethische Skrupel wie bei der Impflicht sind also unbegründet – und selbst diese gibt es in vielen Ländern und gab es auch schon viele Jahrzehnte auf deutschem Boden.

So wichtig es ist, die Pandemie zu überwinden, so wichtig ist es auch, die Demokratie zu bewahren.

Nichts spricht also gegen eine Wahlpflicht. Oder? Was meinen Sie? Löst sie die Probleme unserer Demokratie? Ist diese kleine, harmlose, gesundheitlich ungefährliche Pflicht den Bürger*innen einer Demokratie nicht zumutbar? Oder ist sie sinnlos, weil man zu Demokratie nicht verpflichten kann. Braucht es vielleicht nur mehr Angebote zu demokratischer Mitgestaltung? Mehr Demokratieerlebnisse, die Lust auf politische Teilhabe wecken?

Ihre Meinung dazu interessiert mich. Schreiben Sie mir, oder schreiben Sie hier: DEBATTE.

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