Ausgabe #78 | 01. Juli 2021
Demokratische Schulen sind möglich
Was haben Winfried Kretschmann und Dieter Bohlen gemeinsam?
Es sind die ähnlichen biografischen Muster. In der Politik wird sie gerne als „Diagonalkarriere“ bezeichnet: Von links unten nach rechts oben. Beide waren in ihrer Jugend in kommunistischen Gruppierungen aktiv (ja, wirklich). Beide sind heute Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, wohlhabend, einflussreich, in der „Mitte der Gesellschaft“ angekommen.
Vergleichbare Karrieren sind gar nicht so ungewöhnlich. Allein ein Dutzend Chefredakteur*innen angesehener Medien und eine dreistellige Zahl von Bundestagsabgeordneten haben ähnliche Biografien aufzuweisen.
Dieses Muster zieht sich im Grunde seit den 68ern durch die deutsche Politik. Viele der einflussreichsten Akteur*innen waren in ihrer Jugend links. Also ganz links. Noch linker, als Sie gerade denken.
Prägend für diese Biografien – und zugleich eine besondere Fähigkeit unseres politischen Systems – war jedoch stets die Option, von linksradikaler Generalopposition zu demokratischer Wirksamkeit aufsteigen zu können.
Die dabei stattfindenden Prozesse und die Wechselwirkungen zwischen persönlichen Überzeugungen und gesellschaftlichen Wirkungen sind bis heute nicht wirklich intensiv untersucht. Was jedoch rund ein halbes Jahrhundert politischer Geschichte der Bundesrepublik und ihrer politischen Eliten prägt, ist der „diagonale Trend“ vieler Karrieren.
Die Jugend war eben – so die allgemeine Wahrnehmung – tendenziell „linker“ als ihre Elterngeneration. Sie bewegte sich dann im Laufe der Jahre weiter in die „Mitte“ oder auch darüber hinaus, nur um dann von den eigenen Kindern wieder von links kritisiert zu werden.
Es fühlte sich beinahe an, wie ein Naturgesetz.
Und doch hat sich das in jüngster Zeit dramatisch geändert. Bei den kürzlichen Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt wurde die AfD bei den jüngeren Wählerinnen und Wählern mit Abstand stärkste Partei. Das ist beileibe nicht nur ein „Ostproblem“. Andere Wahlergebnisse, Umfragen und auch die aktuelle Shell Jugendstudie belegen: Große Teile der jüngeren Generation sind mit der Demokratie unzufrieden, haben sich von ihr abgewandt – oder sie können schlicht nichts mit ihr anfangen.
Dabei ist es nicht mehr allein die Kritik von links, die die Einstellungen prägt, sondern in erschreckendem Maße auch rechtsradikales, rassistisches, völkisches Gedankengut.
Wenn aber die politischen Überzeugungen auch dieser Generation sich wie bislang entlang der beschriebenen Diagonale bewegen – Wie sieht dann unsere Zukunft aus?
Wir haben also offensichtlich ein demokratisches Generationenproblem. Und es überrascht im Grunde nicht. Denn Demokratie ist nichts, was man aus den Medien lernt – und schon gar nicht im Internet.
Demokrat*innen werden wir aus Erfahrungen. Weil wir als akzeptierte Mitglieder einer Gemeinschaft Respekt und Selbstwirksamkeit erfahren. Weil wir lernen, im respektvollen Konflikt mit anderen unsere Interessen zu artikulieren und Lösungen anzustreben. Das müssen wir erleben, reflektieren und so die Sicherheit gewinnen, dass dies der Weg ist, wie wir in einer freien Gesellschaft Gemeinwohl generieren.
Einen anderen Weg gibt es nicht.
Grund genug also, uns zu fragen, ob unser Bildungssystem diesen Anspruch einlöst? Es tut es nicht. Demokratie ist allenfalls ein mehrstündiges Lern-Thema inkl. Klausur und Noten. Demokratische Prozesse, Diskurse, Konflikte sind nicht vorgesehen.
Das gilt für unsere klassischen Schulen und Bildungseinrichtungen. Allerdings beobachten wir in den vergangenen Jahren auch, parallel zur immer weiter fortschreitenden Diversifizierung der Gesellschaft, auch eine solche Diversifizierung im Bildungssystem.
Privatschulen aller Couleur entstehen. Die Zahl der kirchlichen Schulen steigt, anthroposophische Schulen haben schon eine längere, ungebrochen anhaltende Tradition.
Und es gibt die Bewegung der sogenannten „demokratischen Schulen“.
Nun sind experimentelle Schulen nicht prägend für ganze Generationen, aber vielleicht können sie ja als Beispiel, Muster, Blaupause wichtige Impulse setzen und uns zeigen, was geht?
Werfen wir also einen kurzen Blick auf dieses Schulkonzept. Und der ist zunächst, wie so oft bei unseren Themen, etwas sprachlich verwirrend.
Tatsächlich gibt es seit 2005 so etwas wie eine „offizielle“ Definition einer demokratischen Schule. Sie konzentriert sich auf drei Kriterien:
- Unterricht ist freiwillig. Lernen findet selbstbestimmt und ohne Lehrplan statt.
- Möglichst viele Belange des schulischen Zusammenlebens werden basisdemokratisch geregelt, wobei Lernende und Lehrende je eine Stimme haben.
- Alle können sich frei in der Schule bewegen, solange sie nicht gegen die von der Gemeinschaft beschlossenen Regeln verstoßen.
Tatsächlich ist dies ein revolutionäres Lernkonzept, geprägt vor allem durch die Abwesenheit von Wertungen, Lehrplan und Zwang. Bildung ist hier ein Angebot. Mehr nicht. Das Konzept ist für viele Eltern attraktiv.
Schon 1921 entstand mit der englischen Summerhill School die erste Schule nach diesem Muster. Mein erstes pädagogisches Fachbuch zur „emanzipatorischen Pädagogik“ habe ich in den 80ern dazu geschrieben.
Weltweit gibt es heute über 200 Demokratische Schulen. In Deutschland existieren bereits 23 Demokratische Schulen sowie über 50 Gründungsinitiativen.
Es lohnt sich, sich näher mit den Erfahrungen aus diesen Schulen zu beschäftigen. Allerdings sollte man dabei nicht aus dem Augen verlieren, dass das Konzept grundsätzlich zunächst einmal ein sehr individualistisches, fast anarchisches ist. Prägend ist eigentlich nicht das Attribut „demokratisch“, sondern „selbstbestimmt“. Das eine muss das andere nicht ausschließen.
Aber es ist eben auch nicht identisch.
Der demokratische Teil des Konzeptes ist deshalb auch konsequent basisdemokratisch. Entscheidungen werden kollektiv von allen Mitgliedern der Gemeinschaft unabhängig von Alter oder Status getroffen. Alle haben ein gleiches Mitspracherecht bei wichtigen Entscheidungen, wie zum Beispiel Schulregeln, Lerninhalte, Projekte, Anstellung des Schulpersonals und Finanzen.
Man mag dieses Konzept für zu weitgehend halten, für elitär, für ungerecht gegenüber Kindern aus „bildungsfernen“ Familien. Eines aber zeigen die demokratischen Schulen sehr gut:
Es ist möglich, demokratische Selbstwirksamkeitserfahrungen in den Bildungsalltag zu integrieren.
Sind die „demokratischen Schulen“ also ein Muster, nach dem wir unser Bildungssystem reformieren sollten? Eines sind sie gewiss: Eine Mahnung, dass es auch anders geht. Demokratie und Bildung sind kein Widerspruch.
Also sollten wir aufhören so zu tun, als wäre es einer.
Gerade die Corona-Pandemie hat meiner Meinung nach zusätzlich gezeigt, wie wenig die Schulen auf eine demokratische Sozialisation orientiert sind. Sie sollen auf Abschlüsse hin arbeiten.
Die Jugendlichen haben zum Teil bis zu 5 Monate ihre Klassenkameraden und Kameradinnen nicht gesehen und sind somit vereinsamt. Wie soll da ein demokratischer Austausch möglich sein? Demokratie lebt vom Dialog mit anderen.
Wenn es immer heißt, die Jugend sei die Zukunft, wie kann es sein, dass sie dann kein Mitspracherecht hatte, wenn es um die Corona-Beschränkungen ging? Schlimmer noch, gerade dann, wenn sie auf die Straße gehen, werden sie mit Geringschätzung belegt, wie es die Debatten um die leider verebbte (oder zumindest aus der öffentlichen Debatte weitgehend verschwundene) Fridays for Future-Bewegung zeigt. Hier hieß es: Die jungen Leute sollen lernen und nicht demonstrieren!
Vielen Dank für Ihre Anmerkung zur mangelnden „demokratischen Sozialisation“. In der Tat wird in vielen Schulen, wenn überhaupt, Demokratieförderung als Aufklärung über Extremismus praktiziert. Das reicht natürlich nicht. Solange die Demokratiekompetenz sich auf Unterrichtsinhalte beschränkt, wird es nicht funktionieren, Demokratie lernen wir durch demokratisches Agieren, durch Diskurse, Selbstwirksamkeit und auch Frustrationen. Hier braucht es Angebote für junge Menschen – auch in der Schule, aber nicht nur …