Ausgabe #89 | 16. September 2021
Im Sandkasten
Sie lügen, sie betrügen, sie versprechen, was sie nicht halten können. Sie schachern mit Posten, verkaufen Positionen, schlagen testosterongetriebene Redeschlachten – und das alles nur, um Macht, Einfluss und vor allem attraktive Ämter zu erhalten.
Das alles geschieht zum Beispiel in Texas. 1.200 junge Menschen „üben“ dort eine Woche lang Demokratie. In den USA hat dieses Format, die sogenannten „Boys States“ und „Girls States“ (man beachte die Geschlechtertrennung), Tradition. In der 2020 erschienenen TV-Doku gleichen Namens wird ein solches Event eindrucksvoll dokumentiert.
In den deutschen Medien wurde darüber geschrieben, und fast in jedem einzelnen Fall handelt es sich dabei um ein grandioses Missverständnis. Denn die Autor*innen der jeweiligen Beiträge halten dieses Format für eine innovative Form von Demokratieförderung. Es ist vieles. Gut für die Demokratie ist es nicht.
Das ist tatsächlich nicht einmal der Anspruch der Veranstalter*innen, die dieses Format seit 1937 in jedem US-Bundesstaat durchführen. In über 80 Jahren ist kein positiver Einfluss auf die Demokratie gemessen worden.
Wie auch?
Ziel ist laut Statut: „exploring the mechanics of American government and politics“. Das Angebot ist also nichts anderes als ein Trainingscamp für angehende Politiker*innen. Sie lernen darin all das, was in der US-Politik als karrierefördernd gilt: effektives Reden, Lügen und Schachern.
Das Programm fördert Karrieren, nicht Demokrat*innen, es stärkt künftige Eliten, nicht die Demokratie.
Die – übrigens ausdrücklich empfehlenswerte – Dokumentation stellt das ebenso eindringlich wie dramaturgisch ansprechend dar. Um so faszinierender ist die Interpretation des Formats in deutschen Medien. Wenn zum Beispiel die Berliner Zeitung titelt „So gewinnt man den Glauben an die USA zurück.“ Um dann zu fordern: „So ein Experiment müsste es auch in Deutschland geben“, hat sie also weder das Konzept der Boys States verstanden – noch kennt sie die deutsche Situation.
Wir haben solche Formate nämlich in verschiedenen Variationen seit vielen Jahren: demokratische Sandkastenspiele, die keine Liebe zur Demokratie fördern, sondern Karrieretraining für künftige Eliten bieten.
Die diversen Wirtschafts- und Politikplanspiele von Bildungsanbieter*innen und Kreissparkassen gehören dazu, ebenso wie die zahlreichen „Schule als Staat“-Projekttage an Hunderten deutscher Schulen häufig das Gegenteil von Demokratieförderung sind.
Meine eigenen Kinder kamen mehrfach in den zweifelhaften Genuss solcher Formate. Das letzte ist mir besonders gut in Erinnerung geblieben:
Das Gymnasium meiner jüngsten Tochter simulierte mehrere Tage ein Staatswesen: Die „Regierung“ wurde dabei von der Vorbereitungsgruppe eingesetzt. Wahlen waren nicht vorgesehen, es gab eine eigene Währung und die Verpflichtung, sich eine Arbeit bei einem der „Unternehmen“ zu suchen. Auch die „Unternehmer*innen“ standen von Anfang an fest.
Meine Tochter fand das eher unattraktiv, schlug Wahlen vor, wurde ignoriert und verweigerte schließlich die Mitwirkung. Ergebnis: Die „Regierung“ zitierte sie zu einem öffentlichen Schauprozess wegen „Arbeitsverweigerung“. Das Urteil lautete auf „Zwangsarbeit“ – alles unter der weisen pädagogischen Aufsicht der Schulleitung.
Demokratiefördereffekt der Maßnahme? Eher im negativen Bereich. Berichterstattung in der Lokalpresse? „Einzigartiges Demokratieprojekt“.
Aber warum verwechseln wir diese Art von Sandkastenspielen mit echter Demokratieförderung? Weil wir glauben, dass etwas zu imitieren, die Liebe zum Original fördert.
Doch das ist pädagogischer Unsinn – und in Sachen Demokratie gleich doppelt falsch. Demokratie ist eine Haltung, keine Technik. Die Techniken zu lernen, mit denen man in einer Demokratie die eigenen Ziele fördert, ist nicht verwerflich. Demokratieförderung ist das nicht. Eher Elitentraining.
Ähnlich schräg ist die Idee, durch Wahlsimulationen Demokratie zu fördern. Wir werden auch bei den kommenden Bundestagswahlen wieder die sogenannten „Jugendwahlen“ haben, organisiert vom Deutschen Bundesjugendring dürfen Schüler*innen in ganz Deutschland also so tun, als dürften sie wählen.
Keine schlechte Idee, aber eine völlig überschätzte Maßnahme. Denn sie leistet nicht, was nötig ist.
In unserem Land gehen große Teile der (jungen) Menschen nicht wählen. Oder sie geben ihre Stimme, wie erst jüngst in Sachsen-Anhalt, mehrheitlich Rechtsradikalen. Sie glauben nicht an unsere Demokratie, sie glauben nicht, dass sie gehört werden, dass ihre Meinung Relevanz hat. Und was fällt uns dazu ein? Wir bieten Scheinwahlen an, die garantiert keine Relevanz haben.
Denn darum geht es letztlich: um Relevanz. Um Wirksamkeit. Um das Erleben dieser Wirksamkeit. Demokratie ist kein Spiel. Demokratische Haltung entsteht nicht durch Zuschauen oder Simulieren, sondern ausschließlich durch Erleben von Selbstwirksamkeit.
Ja, wir müssen dringend darüber sprechen, wie wir jungen Menschen die Gelegenheit geben, ein positives Verhältnis zur Demokratie zu entwickeln.
Dazu müssen wir ihnen aber keine Spiele anbieten, sondern Demokratie. Reale Möglichkeiten, die zu realen Diskursen, Debatten und Konflikten führen – und zu realen Selbstwirksamkeitserfahrungen.
Aktuell bieten wir wenigen jungen Menschen einen Platz im Sandkasten und so gut wie keinem von Ihnen einen Platz in der Demokratie.
Das sollten wir ändern – und zwar gründlich.
Lieber Jörg, ich schließe mich deinen Ausführungen vollumfänglich an. Zwar bin ich der Meinung, dass gut gemachte Simulation auch förderlich sein kann, jedoch kommt sie tatsächlich an persönliche Erfahrungen mit realen Begegnungen und Debatten nicht ran. Mein Sohn hat das Glück eine hervorragende Politiklehrerin zu haben, die die Schülerinnen und Schüler mit Politikerinnen und Politikern zusammen bringt und diskutieren lässt, die ganze Klasse zu politischen Debatten anmeldet und begleitet. So können die Kinder und Jugendlichen gut ein Verständnis von Demokratie und eine Haltung entwickeln.
Solange es nicht bei Simulationen bleibt, und die dort trainierte Demokratiekompetenz dann auch bei echter politsicher Teilhabe als bereichernd empfunden wird, ist das sogar ganz phantastisch. Dazu bedarf es aber zweier wichtiger Dinge: Erstens sollte Diskurskompetenz trainiert werden und nicht strategisches Austricksen („It’s politics, you have to lie“) und zweites muss es dann eben auch Kontexte geben, in denen der Diskurs zu Wirksamkeit führt. Ich habe den Eindruck, die angesprochene Lehrerin ist sich zumindest des ersten Anspruches bewusst. Inwieweit die Schule dann auch echte, wirksame Teilhabeangebote macht, weiß ich nicht, es interessiert mich aber sehr!
Lieber Herr Sommer, ich bin sehr positiv überrascht, dass sie den Ansatz Planspiel so selbstkritisch sehen. Schließlich ist mir bekannt, dass sie selbst einmal solche Spiele entwickelt haben. Coole Umsetzungen übrigens, die den Jugendlichen wirklich Spass machen. Aber zurück. Ich bin auch ihrer Meinung, dass eine Simulation oder Planspiel z.B. eines Gemeinderates nur dann Sinn macht, wenn sich ein unmittelbarer Dialog mit dem jeweiligen Gemeinderat anschließt, ein konkretes Thema aus der Gemeinde im Raum steht oder eindeutig „nur“ Kenntnisse von den politischen Prozessen vermitteln werden sollen. Leider werden diese Simulationen implizit zu oft als Promotion eingesetzt: „Schaut her wie schwer es unsere Politikerinnen und Politiker haben“. Für diesen Einsatzzweck gibt es auch öfters finanzielle Mittel bzw. Ausschreibungen als z.B. für Policy Games, die ausdrücklich als Beteiligungstool für die gesamte Bürgerschaft aufgesetzt werden. Und wenn neue Lösungen und Wege der Teilnehmerinnen nicht gewürdigt werden – Stichwort Auwertung oder Debriefing – tja dann, haben wohl die Durchführenden selbst nicht verstanden, was sie da machen und begleiten.
Lieber Eric Treske, ja, tatsächlich habe ich dazu in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sogar ein Buch veröffentlicht. Es ging um so genannte „handlungsorientierte“ Planspiele als Methode in der Bildungsarbeit. Es müsste heute noch antiquarisch erhältlich sein. Die von Ihnen erwähnten „neuen Lösungen und Wege“ und die gemeinsame kritische Auswertung der Geschehnisse sind in diesem Format von ganz zentraler Bedeutung. Diese Art von Planspielen sind nach wie vor, heute fast mehr als vor 40 Jahren, sehr gut für aktivierende Bildungsprojekte geeignet. Wenn sie, wie Sie schreiben „verstanden“ und richtig eingesetzt werden. Eine echte Beteiligung und Wirksamkeit können sie aber natürlich nicht ersetzen, Sie schreiben ja sehr gut über den problematischen Promotions-Charakter. Da stimme ich Ihnen vollumfänglich zu. Vielleicht sollte man dieses alte Buch noch einmal aktualisieren und neu veröffentlichen …