#231 | Die Partei der Fleißigen

Es gibt eine Gruppe in unserem Land, die besonders zu Verschwörungserzählungen und rechtsradikalen Einstellungen neigt – und gleichzeitig eine Stütze der Leistungsgesellschaft ist.

Ausgabe #231 | 6. Juni 2024

Die Partei der Fleißigen

So hatte sich der Delegierte aus Hamburg den Beginn seines Parteitages nicht vorgestellt.

Frisch akkreditiert und mit einem Namensschild versehen, wollte er die Grugahalle in Essen betreten.

Doch er wurde von einem Mann angehalten, der sich als Gerichtsvollzieher vorstellte.

Er nahm aufgrund hoher Schulden seines Gegenübers eine unmittelbare Taschenpfändung vor – und erleichterte ihn um den größten Teil seines Bargelds.

Erst danach durfte der AfD-Politiker seine demokratischen Rechte wahrnehmen.

Tatsächlich wird in der Presse immer wieder davon berichtet, welch hohe Quote an privatinsolventen Funktionären in der AfD zu finden seien. Ob ehemalige Parteivorsitzende, amtierende Landesvorstände oder gleich mehrere Bundestagsabgeordnete:

Erstaunlich viele Funktionäre der rechtsextremen Partei sind wirtschaftlich Gescheiterte.

Manch einer muss den größten Teil seiner Einnahmen direkt an die Gläubiger*innen durchreichen.

Für viele Demokrat*innen ist dies ein weiterer Beleg dafür, dass die AfD zutiefst unseriös sei.

Doch ganz so einfach ist die Sache nicht.

Tatsächlich ist die Prozentzahl wirtschaftlich gescheiterter Menschen unter den AfD-Funktionären hoch. Aber auch unter ihren Wähler*innen.

Diese Statistik hat jedoch einen überraschenden Hintergrund.

Eine Studie aus dem vergangenen Jahr beleuchtet diesen Sachverhalt näher. In der sogenannten „Mitte-Studie“ der Friedrich-Ebert-Stiftung wurden die politischen Einstellungen unterschiedlicher Gruppen ermittelt.

Zwei Indikatoren spielten dabei eine Rolle für die Einteilung: hohe Krisenbetroffenheit (also ökonomisches Scheitern) und die Verinnerlichung „marktwirtschaftlicher Ideale“ (also Erfolg durch Leistung).

Eine Gruppe lag bei diversen Einstellungen mit großem Abstand vorn: 27 Prozent von ihnen misstrauen Medien, 67 Prozent stimmen Verschwörungserzählungen zu, 20 Prozent haben ein geschlossen rechtsextremes Weltbild und fast 30 Prozent gaben sich als AfD Wähler*innen zu erkennen.

Es war die Gruppe mit hoher Krisenbetroffenheit und marktwirtschaftlichen Idealen, die Studie nennt sie die „entsichert Marktförmigen“.

Das ist ein sperriger Begriff, der nur uns Politikwissenschaftler*innen einfallen kann. Übersetzt meint er vor allem: frustrierte Fleißige.

Die Kernaussage der Studie: Menschen, die glauben, dass harte Arbeit mit sozialem Aufstieg belohnt wird, bei denen aber dieses Versprechen nicht eingelöst wurde, sind besonders anfällig für antidemokratische Einstellungen.

Noch kürzer: Die AfD ist nicht die Partei der Dummen, sondern der (erfolglos) Fleißigen.

Das erklärt übrigens auch, weswegen diese Partei aktuell bei jungen Menschen so erfolgreich ist.

Dort ist die Zahl der „entsichert Marktförmigen“ besonders hoch. Viele junge Menschen sind auf Leistung gedrillt, aber von Zukunftsangst geprägt.

Wenn wir vor diesem Hintergrund über die Stärkung unserer Demokratie nachdenken, geben die Erkenntnisse eine Menge her.

Unser Bildungssystem so nachzuschärfen, dass es weniger „entsichert Marktförmige“ produziert, wäre ein solcher Ansatz.

Ein weiterer ist die deutliche Ausweitung von Beteiligungsangeboten. Denn wer Zukunft aktiv und selbstwirksam mitgestaltet, sieht sich weniger als gescheitert an.

Doch das bedeutet mehr als mehr Beteiligung. Es bedeutet auch andere Beteiligung.

Genau die Menschen, die besonders intensiv (und umfangreich) berufstätig sind, erreichen viele Beteiligungsangebote überhaupt nicht.

Umgekehrt gibt es viele Gründe dafür, dass Menschen, die nicht (mehr) beruflich umfassend eingespannt sind, überproportional in Beteiligungsprozessen präsent sind.

Der Hauptgrund aber ist: Sie haben Zeit. Nicht nur absolut mehr Zeit. Vor allem mehr Zeit zu den Zeiten, in denen Beteiligung häufig ermöglicht wird.

Viele Gruppen zählen wir zu den „Beteiligungsfernen“. Berufstätige, besonders solche mit großer beruflicher Belastung, häufig nicht. Doch sie gehören auch dazu.

Lange und intensive Veranstaltungen am Tag oder frühen Abend erreichen sie schwer.

Wenn wir Beteiligung aber auch als Demokratiestärkung verstehen, dann ist diese Gruppe besonders bedeutsam. Die Mitte-Studie hat dies eindrücklich gezeigt.

Wie also können wir Beteiligung für sie erschließbar machen?

Mit Themen und Formate, die ihrer Lebenswirklichkeit entsprechen. Und davon gibt es genug.

Nur ein Beispiel: In einer schwäbischen Stadt soll es in diesem Jahr erstmals eine „Sommerstraße“ geben. Also eine temporäre Verkehrsberuhigung während der Sommermonate.

Allerdings hat die Stadt komplett vergessen, zuvor mit den dort ansässigen Einzelhändler*innen zu sprechen. Die leiden im Sommer ohnehin an Umsatzeinbußen – und sind nun allesamt komplett frustriert.

Beteiligung? Wäre machbar gewesen.

Gerade Mittelständler*innen und Selbständige haben Angst vor der Transformation und den Verwerfungen, die sie mit sich bringt.

Eine der größeren demokratischen Parteien hat mich jetzt gebeten, genau für diese Gruppe ein Barcamp zu moderieren. Das setzt eben darauf, keine Vorträge oder Belehrungen zu servieren.

Es werden allein die Themen diskutiert, die die Beteiligten mitbringen – und Abgeordnete werden als normale Teilnehmende dabei sein.

Im Rahmen des Projektes „Partizipation in der Arbeitswelt (PIDA)“ entwickelt unser Berlin Institut für Partizipation gerade gemeinsam mit Gewerkschaften konkrete Beteiligungskonzepte für Berufstätige, Schichtarbeitende, aber auch Führungskräfte in Unternehmen.

Das Projekt ist noch jung, aber schon jetzt lernen wir viel.

Vor allem eines: Ob man sie nun „fleißig“ oder „marktförmig“ nennt, diese Menschen sind für Beteiligung zu begeistern.

Doch sie muss konkret, kompakt und kollegial sein.

Und wirksam.

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2 Kommentare
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Martina Tadli
8. Juni 2024 21:13

Großartig. Auf den Punkt gebracht. Ich glaube, da steckt sehr viel Wahrheit drin.
Das Bildungssystem endlich ändern, Hoffnung wecken statt Zukunftsangst und Beteiligung als festen Bestandteil des Alltags ermöglichen – auch für die Generation in der „Rush Hour“ des Lebens, Kompetenzen neu denken und einordnen: Das sind echte Stellschrauben für eine demokratische Zukunft, in der wir mehr ein „Wir alle“ statt ein „Wir und die Anderen“ (er)leben. Wer keine Zeit mehr hat weiter zu denken, weil er in der Zeitzwangsjacke und im sich bis zur Besinnungslosigkeit drehenden Hamsterrad steckt, läuft ins Burnout, in die Frustration, aber nicht in Kreativität und kooperatives Miteinander. So sieht die Realität vieler Menschen heute aus. Dieser Text sollte uns endlich aufwachen lassen.

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