#247 | Das Leid mit den Linien

Politische Teilhabe braucht Rahmensetzungen. Sie sind wichtig. Noch wichtiger ist aber der Weg zu ihrer Entstehung.

Ausgabe #247 | 26. September 2024

Das Leid mit den Linien

Die Regelungen in der Verwaltungsverordnung sind klar. Und beeindruckend. Sie lassen kaum Spielraum für Missinterpretation. Und sie haben eine klare Botschaft:

Beteiligt. Die. Menschen!

Im Zentrum der besagten Verordnung steht der Absatz II.5. Wir genießen ihn in voller Länge:

„Wichtige Beschlussentwürfe werden vor ihrer Behandlung in der Stadtverordnetenversammlung mit den Einwohnern der Stadt beraten.“

Auch Initiativen aus der Einwohnerschaft müssen ihren Weg ins Kommunalparlament finden:

„Die Stadtverordnetenversammlung nimmt halbjährlich einen Bericht darüber und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen entgegen.“ (II.4)

Und da Gute Bürgerbeteiligung nicht ohne Feedback bleiben darf, werden auch die Kommunalpolitiker*innen in die Pflicht genommen. Um die „Initiative der Bevölkerung weiter zu entfalten“ gibt es eine verbindliche „Rechenschaftslegung der Mitglieder der Stadtverordnetenversammlung … in Aussprachen mit den verschiedensten Schichten der Bevölkerung.“ (II.9i)

Das alles sind keine Kann- oder Soll-, sondern Muss-Vorschriften. Verbindlich in vielen Städten. In Potsdam, Falkensee, Oranienburg, Leipzig, Gera, Dresden und anderswo.

Traumhaft aus Sicht der Partizipationsgemeinde? In der Tat.

Allerdings stammen sie aus einer anderen Zeit. Und gewissermaßen aus einem anderen Land.

Beschlossen vom Staatsrat der Deutschen Demokratischen Republik am 28. Juni 1961. Und damit verbindlich für alle Städte der DDR.

War die DDR tatsächlich der partizipativere deutsche Staat?

Das wäre eine steile These. Wer diese Zeit im Osten der Republik noch selbst miterlebt hat, hat zumeist andere Erinnerungen.

Und doch sind die obigen Zitate keine Erfindungen.

Aber ein schönes Beispiel dafür, dass Verordnungen und Leitlinien, Grundsätze und andere Regelungen vor allem eines sind: relativ.

Es gibt weit über 100 Leitlinien zur Bürgerbeteiligung in deutschen Kommunen. Das Berlin Institut für Partizipation hat kürzlich im Rahmen einer Studie 91 von ihnen untersucht und strukturiert verglichen.

Keine zwei sind identisch. Ihr Umfang schwankt von 2 bis über 120 Seiten. Mal sind es nur grobe Grundsätze, mal bis ins Detail vorgeschriebene Prozesse.
Mal setzen sie Beiräte ein, oft nicht. Mal schreiben sie regelmäßige Evaluationen der Beteiligung vor, mal regen sie diese an, überwiegend kümmern sie sich darum nicht.

In nicht wenigen Kommunen beklagen Bürger*innen, dass die Leitlinien in der Praxis nicht immer oder nur selektiv umgesetzt werden.

Und in fast der Hälfte der befragten Kommunen wussten mehrere Mitglieder des Kommunalparlamentes gar nicht, dass es solche Leitlinien gibt.

Stehen Leitlinien also eher für Leid als für Linie? Sind sie überflüssig, wertlos, beliebig?

Absolut nicht.

Sie sind sich wichtig und wertvoll.

Nicht wegen des Textes. Sondern wegen des Prozesses.

Bei Leitlinien geht es weit weniger um die endgültigen Formulierungen als um den Prozess ihrer Erstellung, denn der ist, wenn er gut gemacht ist:

Ein Beteiligungsprozess.

Und zwar einer, der die Benchmark für zukünftige Prozesse und Verfahren setzt. Der die Haltung erarbeitet und im Diskurs verfestigt, mit der zukünftig beteiligt wird.

Wenn der viel zu oft viel zu lässig zitierte Satz „Der Weg ist das Ziel.“ sinnvoll ist, dann im Kontext der Erarbeitung von Leitlinien.

Ob es dann am Ende einen Beirat gibt, Standards für bestimmte Prozesse, Vorgaben für ein Beteiligungskonzept, zwingende Evaluationen oder gar eine verpflichtende Methodensammlung – darüber wird in diesem Prozess heiß gestritten werden.

Wichtig dabei ist weniger, was am Ende formuliert wird. Wichtig ist, dass darüber gestritten wird. Und zwar unter Einbeziehung von Politik, Verwaltung und Bürger*innen. Deren Zahl ist letztlich von Bedeutung, nicht die Zahl der Seiten oder Paragraphen.

Ihre Kommune hat keine Leitlinien? Dann brauchen Sie welche. Weil Sie den Prozess brauchen, der zu ihnen führt.

Denn der hilft dabei, am Ende das zu leben, was schon 1961 in der DDR formuliert wurde, aber eine leere Worthülse blieb:

„Wichtige Beschlussentwürfe werden vor ihrer Behandlung in der Stadtverordnetenversammlung mit den Einwohnern der Stadt beraten.“

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1 Kommentar
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Detlef Wagner
27. September 2024 10:58

Das ist mal wieder ein Plädoyer für Leitlinien, aber vor allem für einen Trialog. In Erfurt hat man schon seit langem die Leitlinien als „verbrannt“ (die Formulierung ist eine Übersetzung von mir) bezeichnet und sie sind, auch wenn sie hier und da noch zu lesen sind, imWesentlichen nicht mehr existent. Den Trialog konnte man nach dem Ende des Beteiligungsrates nicht verhindern. Ganz freiwillig erschien mir diese Initiative nicht und inzwischen habe ich den Eindruck, dass mit der Kommunal- und der OB-Wahl die Hoffnung weiter gestiegen ist, dass dieser Prozess „abgeschlossen“ ist.

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