#90 | Beraterrepublik Deutschland

Die Politik gibt Milliarden für externe Berater aus. Sich von den eigenen Bürger*innen beraten zu lassen ist (noch) die Ausnahme.

Ausgabe #90 | 23. September 2021

Beraterrepublik Deutschland

Am kommenden Sonntag wählen wir eine neue Bundesregierung. Zeit für eine kurze Bilanz der bisherigen. Eine besonders beeindruckende Zahl geistert gerade durch die Medien: Über eine Milliarde Euro hat die scheidende Bundesregierung in ihrer Amtszeit für Berater*innen ausgegeben.

Eine unfassbare Summe. Allein für knapp 200 Millionen Euro ließ sich Verkehrsminister Andreas Scheuer beraten – was jedoch den Flopp mit der PKW-Maut nicht verhinderte, der wohl über 700 Millionen Euro kosten dürfte.

In den entscheidenden Fragen erwies sich der Minister dann offensichtlich doch als beratungsresistent. Das wirft natürlich die boshafte Frage auf, ob wir zukünftig überhaupt noch Parteien wählen sollten – oder nicht gleich Beratungsunternehmen, ohne die wohl kein Gesetz mehr zustande kommen kann.

Hochrechnungen würden dann kurz vor der Wahl möglicherweise KPMG wenige Prozentpunkte vor McKinsey sehen, weit abgeschlagen danach folgen Deloitte und PricewaterhouseCoopers. Letztere hätten aber in einer erwarteten Koalition mit KPMG Chancen auf das Finanzministerium.

Klingt absurd? Ist es auch. Dennoch werden, gerade auch angesichts der Herausforderungen durch Klimawandel und digitale Transformation, die Rufe nach einer „Expertokratie“ lauter.

Tatsächlich haben wir sie schon – nicht nur die Milliardenhonorare auf Bundesebene belegen das, auch in Landesregierungen und Kommunen geht kaum noch etwas ohne externe Beratung und/oder Gutachten. Politische Entscheidungen werden zunehmend weniger politisch, sondern „fachlich“ begründet.

Das hat etwas mit der zunehmenden Regelungsdichte zu tun, aber vor allem auch mit dem Streben von politischer Verantwortung hin zu Verantwortungslosigkeit. Was man mit einer Beratung oder einem Gutachten untermauern kann, muss man nicht mehr politisch vertreten.

Und wenn sich ein Vorhaben als Rohrkrepierer erweist, können sich die politisch Verantwortlichen mit Verweis auf eben diese Gutachten, denen man „guten Glaubens gefolgt sei“ um die Konsequenzen „herumschlawinern“. Manchmal, wie der Fall Scheuer zeigt, sogar dann, wenn man die Empfehlungen der Ratgeber*innen nach Kräften ignoriert.

Dabei ist grundsätzlich gegen fachlichen Beistand für Politik nichts einzuwenden. In einer Welt, in der wir immer mehr Wissen verarbeiten müssen, um kluge Entscheidungen zu treffen, ist dies auch für Vollzeitpolitiker*innen kaum noch leistbar. Ehrenamtliche Lokalpolitiker*innen haben da oft gar keine Chance. Und selbst ihre Zuarbeiter*innen in den Verwaltungen benötigen oft zusätzliche Expertise, um Entscheidungen solide vorbereiten zu können.

Politikberatung ist also per se nichts Verwerfliches.

Allerdings hat die steil ansteigende Beratungskultur in unserer Politik einen Nebeneffekt, den wir zu wenig beleuchten: Je mehr Entscheidungen entpolitisiert und beratungsgetrieben werden, desto weniger Raum gibt es für Deliberation, für politische Debatten – und damit auch für Beteiligung.

Dort wo sie dann doch stattfindet, gestaltet sie Beteiligung oft zunächst als umfassende Laienschulung – damit die Bürger*innen überhaupt „wissen, worüber sie reden“. Tatsächlich ist das auch bei vielen Themen nötig, bei anderen naheliegend. Immer besteht aber von Anfang an die Gefahr, gerade jene Menschen, denen wir eine „Beteiligung auf Augenhöhe“ bieten wollen, zunächst einmal zu Objekten von Bildungsprozessen zu machen. Sollen diese dann anschließend in ihre eigentliche Rolle als Subjekte der Deliberation finden, geht das nie, wirklich nie, ohne Konflikte. Und oft geht es gar nicht mehr.

Wenig hilfreich ist es genau für diese Rollenfindung dann auch, wenn auf die meisten kreativen Ideen, der – nahezu immer berechtigte – Einwand folgt: „Geht nicht, sagen die Expert*innen, weil …“.

Das daraus resultierende Ping-Pong Spiel zwischen Beteiligten und Verwaltungen (und manchmal auch direkt anwesenden Expert*innen) ist ermüdend für die einen, frustrierend für die anderen und gefährlich für das Ergebnis.

Es geht allerdings auch anders. Beteiligung ist immer Umgang mit Nichtwissen – egal, wie viel Expertise von außen hineingepumpt wird. Deshalb ist es so wichtig, genau die Fragen zu definieren, zu denen beteiligt wird. Das sind eben vor allem ethische und wertebasierte Entscheidungen von gesellschaftlicher Relevanz. Entscheidungen, die sich zwingend aus Rechtslagen und/oder Fachwissen ergeben, können in Beteiligungsprozessen immer nur Randthemen sein und nie im Fokus stehen.

Dennoch wird es immer Wissensgrundlagen geben, die auch für eine wertebasierte Debatte nötig sind. Deren Erstellung und Vermittlung sind jedoch nichts, was am Anfang als didaktische Maßnahme von den Beteiligenden geplant werden darf. Vielmehr muss es sich um einen autonomen Prozess handeln, der von den Beteiligten gesteuert wird und bei dem sie unterstützt werden. Wissen muss gemeinsam eingeholt und erarbeitet werden – nicht serviert. Das Ergebnis ist ähnlich, doch die Haltung entscheidet. Wer die Beteiligten von Anfang an Subjekte und Gestalter*innen des Prozesses sein lässt, investiert etwas mehr Zeit und Geduld – spart sich aber riskante Konflikte und erhöht die Chancen auf gute Ergebnisse.

Gute Ergebnisse sind eben genau das, was letztlich gute politische Entscheidungen ermöglichen soll. Denn darum geht es bei Beteiligung – wenn sie gut ist, also Wirkung haben soll. Am Ende ist sie immer auch Politikberatung.

Unsere Demokratie würde in vielfacher Hinsicht profitieren können, wenn die nächste Bundesregierung erneut über eine Milliarde Euro in Politikberatung investieren würde – aber statt wie bislang nur einen Bruchteil zukünftig die Hälfte für partizipative bürgerschaftliche Politikberatung ausgäbe.

Bürgerräte zum Beispiel sind dafür ein ganz ausgezeichnet geeignetes Format. Denn bei vielen Themen sind Expert*innen in eigener Sache erheblich hilfreicher als hoch bezahlte „Tabellenschubser*innen“ mit BWL-Abschluss. Zwar können Bürgerräte die dringend auszubauende Beteiligung Betroffener nicht ersetzen, da sie tatsächlich weniger Bürgerbeteiligung als partizipative Politikberatung darstellen. Als solche aber sind sie ein effektives Format zur „Erdung“ politischer Institutionen, Akteur*innen und Entscheidungen.

Und im Vergleich zu den McKinseys dieser Welt auch finanziell ein echtes Schnäppchen …

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