#106 | Schräge Ideen

Fast alle demokratischen Innovationen waren zunächst einmal nur eines: eine schräge Idee. Doch nicht jede schräge Idee ist eine Innovation.

Ausgabe #106 | 13. Januar 2022

Schräge Ideen

Kinder sind so herrlich unkonventionell. Und clever. Sie produzieren Ideen, auf die wir Erwachsene nie kommen würden.

Weil unsere Lebenserfahrung stört. Die sortiert die meisten Ideen schon ganz am Anfang aus, wenn sie noch sanft in unseren Synapsen gären. Geht nicht. Funktioniert nicht. Kann man nicht machen. Flüstert sie uns ein. Und hat ja auch meistens recht. Nur: Kinder interessiert das nicht.

So wie jene 12- bis 14-jährigen italienischen Gastarbeiterkinder, mit denen ich an einem heißen Sommermorgen in den frühen Achtzigern in den Dünen Südfrankreichs lag. Vor uns türmte der Atlantik hohe Wellen auf. Hinter uns knisterten die Pinien in der aufkommenden Tageshitze.

Das Jugendhaus, in dem ich damals arbeitete, hatte das Ferienlager organisiert, die Teilnehmer*innen waren allesamt Migrantenkinder, galten als schwer „beschulbar“. Die meisten hatten eine Akte beim Jugendamt, eine Karriere als Klein- oder Großkriminelle schien vorgezeichnet. Es ging also um die Vermittlung von sozial erwünschtem Verhalten, Disziplin und die Akzeptanz von Regeln. Überraschenderweise war das bei den Kids beliebteste Angebot ein freiwilliges: eben jene morgendliche „Philosophiestunde“ am Strand.

Wir sprachen über die merkwürdige Welt der Erwachsenen, über deren Regeln, Strukturen und die Frage, warum diese Welt so oft so ungerecht ist, vorzugsweise zu Kindern und Jugendlichen.

Und, oh Wunder: Jungs (natürlich waren es überwiegend Jungs), denen in der Schule eine Aufmerksamkeitsspanne von wenigen Minuten diagnostiziert wurde, hörten plötzlich zu und konnten argumentieren.

Kinder sollten wählen dürfen. Das war rasch Konsens. Denn je jünger sie seien, desto mehr würde ihre Zukunft von Entscheidungen der Politik geprägt.

Dagegen ließ sich nichts sagen. Und so entstand an einem sonnigen Morgen, eine Idee, mit der ich auch heute noch gerne in Seminaren einen Diskursimpuls setze:

Wie wäre es denn, wenn jeder Mensch in einer Demokratie nicht eine, sondern 100 Stimmen hätte? Und mit jedem Lebensjahr eine weniger. Eine Zehnjährige dürfte also wählen – und hätte 90 Stimmen. Ein 90-jähriger dagegen nur 10.

Klingt schräg? Ist es auch. Aber was würde es bewirken, wie könnte es funktionieren? Was wäre mit Kleinkindern? Und wäre das nicht Altersdiskriminierung? Und sind Kinder nicht überhaupt zu doof, um mitentscheiden zu können?

Alles ernsthafte Bedenken. Wir haben damals trotzdem weitergesponnen. Und sind zu weiteren überaus unkonventionellen Ergebnissen gekommen. Mit Erwachsenen wäre das so kaum denkbar gewesen. Schon die erste Idee hätte kaum jemand geäußert – und wenn, dann können wir uns die Reaktionen lebhaft ausmalen.

Eigentlich schade.

Denn manchmal sind es gerade die schrägen Ideen, die Positives bewirken. Manchmal schreiben sie sogar Geschichte. Der Pariser Weltklimagipfel, heute anerkannt als der große Wendepunkt in der internationalen Klimadebatte, wäre fast gescheitert. Der angestrebte Weltklimavertrag hatte eigentlich keine Chance auf einen Konsens.

Zu sehr verhakten sich einzelne Antagonist*innen. Für manche Sätze brauchte es stundenlange Debatten und Unterbrechungen. Die Zeit wurde knapp. Die Stimmung immer konfliktreicher. Da entschied sich der Vorsitzende der Konferenz, der französische Außenminister Laurent Fabius, für einen wirklich schrägen Ansatz: Konflikte sind keine Störung, sondern etwas Wunderbares. Sie schaffen die Chance zur Klarheit.

Ab sofort wurden bei jedem Konflikt die beiden Hauptantagonist*innen identifiziert. Und die allein wurden damit beauftragt, einen Kompromiss zu finden. Sie durften sich dazu zurückziehen und sich Zeit lassen, solange sie wollten. Jetzt kommt die Pointe: Alle anderen arbeiteten währenddessen weiter.

Die Methode funktionierte. Ganz ohne Moderation nahm die Arbeit plötzlich Tempo auf, indem ausgerechnet die schlimmsten Kontrahent*innen nach der Lösung suchen mussten. Unter dem Druck, ja nichts zu verpassen, wurden Konflikte angenommen und Lösungen am Fließband produziert. Den Rest der Geschichte kennen wir: Paris war endgültig der Auftakt zu einem globalen Klimaschutz.

Diese Methode hat Laurent Fabius übrigens nicht erfunden. Es gibt dafür sogar einen Namen: Indaba heißt sie und wurde ursprünglich beim Volk der Zulu genutzt, um Konflikte in Versammlungen zu klären.

Ob Migrantenkinder oder Stammesfürsten: Weder die Quelle der Ideen noch deren vermeintliche Schrägheit sollten uns davon abhalten, sie ernsthaft zu prüfen.

Keine Idee ist gut, weil sie schräg ist. Aber alle guten Ideen waren anfangs einmal schräg.

Noch 1914 war Deutschland ein Volk von glühenden Anhängern der Monarchie. Die Idee einiger weniger Sozialdemokraten, den Kaiser zu stürzen und eine demokratische Republik zu begründen, war nicht nur schräg, sondern „Vaterlandsverrat“. Vier Jahre später wurde sie Realität.

Gleichzeitig wurde das Frauenwahlrecht eingeführt. Zuvor galt es als völlig absurd, Frauen wählen zu lassen.

Mitte des 19. Jahrhunderts wurde man erst mit 25 Jahren volljährig. Es war schräg, auch nur daran zu denken, dass „Minderjährige“ reif genug waren, um über ihre eigene Zukunft zu entscheiden. Erst 1975 wurde das Wahlalter auf 18 Jahre herabgesetzt.

Völlig klar war auch lange Zeit, dass verheiratete Frauen ungeeignet für ein Lehramt waren. Im Dienstrecht des Landes Baden-Württemberg bestand noch bis 1956 die Regelung, dass eine Lehrerin im Fall der Heirat ihre Stellung zu quittieren hatte.

Diese Aufzählung ließe sich lange weiterführen. Sie zeigt: Gerade in Fragen der Demokratie und politischen Teilhabe ist möglicherweise morgen schon Kultur, was heute nur eine „schräge Idee“ ist.

Erst kürzlich kam in einem von mir moderierten Workshop die Frage auf, ob ein Budget von gerade mal knapp einem Euro pro Einwohner*in, das dann mit viel Tam-Tam über einen Online-Prozess an einige Vereine und Projekte verteilt wird, wirklich ein „Bürgerhaushalt“ sei.

Oder ob es nicht viel klüger sei, den Gemeinderat einen Haushaltsentwurf beschließen zu lassen, der dann von einem zufällig gewählten Bürgerrat geprüft und final beschlossen wird?

Das würde zweifellos die Bemühungen aktivieren, den Haushalt wirklich so zu erklären, dass die Bürger*innen ihn verstehen. Wäre aber schräg. Und so gar nicht kommunalrechtskompatibel. Wird möglicherweise nie geschehen. Oder schon bald.

Doch allein die Beschäftigung mit diesem Vorschlag hat zumindest in diesem Fall Dutzende andere spannende und durchaus realistische Ideen erbracht.

Genau aus diesem Grund favorisieren wir in Beteiligungsprozessen so viele kreativitätsfördernde Formate: Weil diese schrägen Ideen ein ganz wesentliches Element politischer Teilhabe sind.

Sie sind keine Störung, keine Verzögerung, kein zufälliger Kollateralnutzen, sondern Teil des Prozesses.

Je mehr schräge Ideen in einem solchen Prozess auf den Tisch kommen, desto sicherer können wir sein, dass wir Einiges richtig gemacht haben. Die realistischen Ergebnisse kommen am Ende ohnehin. Sie sind realistischer, je mehr schräge Ideen wir darin einfließen lassen.

Übrigens: In unserem französischen Ferienlager hatten wir damals alle entscheidenden Fragen in einem Lagerrat entschieden. Tatsächlich haben wir die „100-Regel“ damals eingeführt. Und wissen sie was?

Es hat funktioniert.

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2 Kommentare
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Claudia Schleicher
13. Januar 2022 15:51

Lieber Herr Sommer,
vielen Dank für diesen erneut überaus inspirierenden Beitrag und die Ermutigung, die aus ihm spricht, doch mal „ganz locker“ und ohne reflexhafte Vorbehalte schräge Ideen zumindest mal zu durchdenken.
Mir drängt sich manchmal der Eindruck auf, dass das Wissen um die Prozessfacilitation komplexer und partizipativer Zukunftsgestaltungsprozesse in den institutionellen Gremien wie auch anlassbezogenen Veranstaltungen der Politik zu fehlen scheint. Wie können wir dies als Facilitator*innen wirkungsvoll in die Politik tragen und verankern, damit die notwendigen Konflikte und Entwicklungsprozesse ergebnisreicher, demokratischer (also vom Volk getragen) und manchmal auch mutig-zügiger erfolgen?
Beste Grüße
Claudia Schleicher

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