#39 | Am Anfang war das Feuer

Demokratie liegt nicht in unseren Genen. Wir müssen sie lernen. Aber kann man sie lehren?

Ausgabe #39 | 24. September 2020

Am Anfang war das Feuer

Wussten Sie, wie die Kinder der Sioux lernten, dass Feuer gefährlich ist? Ganz einfach: Wenn der junge Nachwuchs erstmals der Faszination der Flammen erlag und hineingreifen wollte, ließen sie es zu. Und schon war der didaktische Prozess ebenso erfolgreich wie nachhaltig abgeschlossen.

Die indigenen Völker Nordamerikas pflegten sehr unterschiedliche Kulturen, gemeinsam war den meisten jedoch eines: Sie kannten das Konzept des „Lehrens“ nicht, sondern setzten stattdessen auf „Lernen“. Das mögen einige für primitiv halten, ist „Lehre“ doch ein ganz wesentliches kulturbildendes Element unserer Industriegesellschaft.

Ob in der Schule unter der Aufsicht des „Lehrers“ bzw. der „Lehrerin“, der beruflichen „Lehre“, der „Lehre“ an der Hochschule – zu vermittelnde Inhalte sind nahezu überall in einem „Lehrplan“ manifestiert. Wir leben in einer Kultur des Lehrens.

Dieses Prinzip war für die Sioux und andere indigene Völker schlicht nicht verstehbar. Das interessierte die weißen Eroberer*innen nicht, die sie in Reservate verbannten und ihnen ihre Kinder wegnahmen, um sie in christliche Internate zu sperren.

Doch unser Thema sind heute nicht die umfangreichen Verbrechen in der Geschichte der weißen Besiedelung Nordamerikas, die ja in den aktuellen Auseinandersetzungen dort wieder aufpoppen.

Wir wollen heute über das Lernen sprechen.

Es geht um das Lernen in demokratischen Prozessen. Denn dort ist es ganz ähnlich wie beim Feuer: Lernen ist manchmal durchaus schmerzhaft – und kann nur selten durch Lehren ersetzt werden.

Deshalb lautet auch der zehnte (und letzte) Grundsatz gelingender Beteiligung, wie ihn die Allianz Vielfältige Demokratie formuliert hat:

„Gute Beteiligung lernt aus Erfahrung“

Das Lernen aus Beteiligungsprozessen ist eine wichtige Voraussetzung für eine Gute Beteiligung. Und wie echtes Lernen – denken Sie an das Feuer – findet es permanent statt, nicht „später“. Beteiligungsprozesse, -strukturen und -gremien sind immer unvollkommen. Sie sind immer verbesserbar. Und manchmal müssen sie sogar im laufenden Verfahren verbessert werden.

Das Argument „Wir haben das aber anders geplant“ ist zwar schnell zu hören, wenn in einem Beteiligungsprozess Kritik aufkommt. Es basiert jedoch auf einem Denken von „Lehre“, das in demokratischen Kontexten unangebracht ist. Demokratie ist kein Lehr-, sondern ein Lernfach. Es geht nicht um Diplome, sondern um Debatten.

Beteiligungsprozesse müssen lernen dürfen. Dazu müssen sie hinterfragt werden dürfen – immer und von jedem Beteiligten. Denn nur durch Hinterfragen lernen Menschen und Systeme.

In der Praxis heißt das:

  • Legen Sie während des Beteiligungsprozesses immer wieder kurze Zwischenstopps ein, um gemeinsam mit den Beteiligten zu hinterfragen, ob Sie auf dem richtigen Weg zu Ihren Zielen sind. Justieren Sie ggf. den laufenden Beteiligungsprozess nach.
  • Nach der Beteiligung ist vor der Beteiligung: Halten Sie Ihre Erfahrungen aus dem Beteiligungsprozess fest, damit sie in nachfolgende Verfahren einfließen können.
  • Richten Sie in Ihrer Organisation regelmäßige Treffen ein, bei denen Kolleg*innen über ihre Erfahrungen mit Beteiligungsprozessen erzählen können.
  • Um nicht die gleichen Fehler zweimal zu machen: Erstellen Sie eine Sammlung über Ihre Erfahrungen, die Sie kontinuierlich erweitern.

Kurz: Gestalten Sie bereits Ihre Prozesse als „lernende Verfahren“. Denn gelernt wird nicht (nur) im Anschluss aus einem externen Evaluationsbericht, sondern gemeinsam im Verfahren. Lassen Sie Lernprozesse nicht nur zu, fördern Sie diese gezielt. Gehen Sie von Anfang an davon aus, dass das Verfahren NICHT genau so stattfindet, wie zuvor geplant.

Der berühmte Generalfeldmarschall Helmuth Graf von Moltke war ein Kind seiner Zeit und seines Standes. Er war glühender Monarchist und Militarist, doch auch ein kluger Kopf. Von ihm stammt das legendäre Zitat: „Kein Plan überlebt die erste Feindberührung.“

Auch wenn es in Beteiligungsprozessen manchmal durchaus das Trauma der „Feindberührung“ geben kann, so ist das glücklicherweise nicht die Regel. Was jedoch immer bleibt, ist die Vergänglichkeit jeglicher Planung, wenn man es mit mündigen Menschen zu tun hat.

Und das ist gut so.

Denn jeder Beteiligungsprozess ist auch ein Lernprozess. Je bewusster dieser gefördert wird, desto erfolgreicher ist er. Das kann einen Prozess schon mal ins Taumeln bringen, es kann schmerzhaft sein, es kann Nerven und Energie kosten.

Denn wir können nicht wirklich erwarten, dass politische Teilhabe leichter zu erlernen sein soll als Rad-, Ski- oder Skateboardfahren. Und wir alle wissen, dass diese Fertigkeiten weder schnell, noch leicht oder schmerzfrei zu haben sind.

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