#205 | Gemeinsame Geschichten

Das Konzept der Heldenreise hat Generationen von Autoren geprägt. Es kann aber noch ganz andere Dinge.

Ausgabe #205 | 7. Dezember 2023

Gemeinsame Geschichten

Heute soll es um einen Helden gehen. Lassen wir ihn zu Beginn noch ohne Namen auftreten. Seine Geschichte wurde verfilmt.

Und Sie dürfen versuchen, den Film zu erraten, um den es geht.

Unser Held ist zu beginn schwach, benachteiligt, unauffällig. Nichts deutet auf sein zukünftiges Schicksal hin. Doch eines Tages geschieht etwas, das ihn aus einem langweiligen Leben reißt.

Er muss handeln. Seine ausgetretenen Bahnen verlassen. Er verspürt Zweifel, Unsicherheit, fühlt sich nicht fähig. Dann begegnet er einem Menschen, der ihn überzeugt, dass nur er die Welt retten kann, dass er den Aufgaben gewachsen ist.

Er wird zu seinem Mentor.

Gemeinsam überschreiten sie die Schwelle, hinter der es kein Zurück mehr gibt. Sie erleben zahlreiche Bewährungsproben, zweifeln, erleiden Rückschläge und kommen doch der finalen Auseinandersetzung mit dem Bösen immer näher.

Am Ende siegt unser Held, unter großen Opfern und Entbehrungen. Er kehrt zurück in die gewohnte Welt – um festzustellen, dass er diese nicht nur gerettet, sondern auch sich selbst grundlegend verändert hat.

Haben Sie’s erraten? Welche Geschichte, welcher Film ist es?

Spiderman? Indiana Jones? Zurück in die Zukunft? Batman? Avatar? Peter Pan? Mulan? Aladdin?

Wenn Sie eine dieser Vermutungen hatten – hatten Sie recht. Wenn es eine andere war – vermutlich auch.

Warum?

Weil heute fast jeder Hollywood-Blockbuster nach diesem Schema gestrickt wird.

Schon George Lucas griff bei Star Wars darauf zurück. In den 90er Jahren wurde das Schema im Disney Konzern eine Art „Pflichtenheft“ für Drehbuchautoren.

Und das verdankt die Welt einem Historiker.

Der britischen Mythenforscher Joseph Campbell hatte als erster eine Struktur erkannt, die allen Mythen zu Grunde liegt. Jeder Mythos dreht sich um einen Helden und dieser kann in tausend verschiedenen Gestalten auftreten.

Die Grundmuster der Geschichte bleiben dabei jedoch immer gleich.

1949 erschien sein Buch „Der Heros in tausend Gestalten“, indem er nachwies, dass diese Heldenreise in nahezu allen historischen Kulturen fester Bestandteil mythischer Geschichten war – und ist.

Christopher Vogler, ehemals Story-Analytiker der Walt Disney Company, übersetzte Campbells Modell in den Neunziger Jahren für das Medium Spielfilm.

Seitdem wird uns diese Geschichte in immer wieder neuen Versionen im Kino erzählt.
Warum? Weil es funktioniert.

Weil diese Geschichten fast alle Menschen ansprechen, anziehen, mitnehmen auf eine Reise, die sie zutiefst emotional anspricht.

Warum interessiert uns das?

Weil es tatsächlich möglich ist, nach diesem Muster einen Beteiligungsprozesse zu entwerfen.

Ws ist nicht nur möglich, ich habe es bereits öfter getan.

Gerade komplexe Prozesse mit Konfliktpotential und Themen, die die Beteiligung hoch diverser Milieus erfordern, können ganz ausgezeichnet nach diesem Muster gedacht und gestaltet werden.

Natürlich ist ein Beteiligungsprozess kein Drehbuch. Und er kann auch nicht so geplant werden.

Es geht nicht darum, eine Geschichte für andere zu schreiben, sondern darum, gemeinsam eine Heldenreise zu erleben.

Bei der Planung der richtigen Angebote, Formate und Prozessschritte können die zwölf Etappen einer Heldenreise tatsächlich eine wunderbare Inspiration sein:

  1. Die gewohnte Welt
  2. Der Ruf
  3. Die Weigerung
  4. Der Mentor
  5. Die erste Schwelle
  6. Bewährungsproben
  7. Der Tiefpunkt
  8. Die Prüfung
  9. Die Belohnung
  10. Der Rückweg
  11. Die Erkenntnis
  12. Die Heimkehr

Wer einmal einen Beteiligungsprozess geplant hat, dessen Kreativität setzt bei Betrachtung der zwölf Etappen ganz von alleine ein.

Und genau darum geht es: Ein guter Beteiligungsprozess folgt keinem Drehbuch, ist aber eine Heldenreise, die die Beteiligten gemeinsam schreiben.

Jede dieser Reisen ist dabei unterschiedlich.

Manchmal sind die Prüfungen kaum zu bewältigen. Manchmal folgen nur wenige dem Ruf. Manchmal sind die Tiefpunkte kaum zu bemerken. Nicht immer ist die Belohnung die Mühen wert, und auch die Erkenntnis ist nicht immer so klar, wie erhofft. Dafür ist die Belohnung hin und wieder sensationell.

Jede Heldenreise ist anders. Aber jeder Beteiligungsprozess kann eine Heldenreise sein.

Deshalb meine Empfehlung: Denken Sie in der Planung von dialogischen Prozessen zumindest einmal ganz kurz an die Heldenreise und daran, dass am Ende des Pfades immer eine Belohnung warten sollte.

Es geht nicht um sie allein.

Vor allem geht es darum, dass gemeinsame Prozesse gemeinsame Geschichten brauchen.

Dann schaffen Sie ein Miteinander.

Und das ist die größte Belohnung, die wir erwarten können.

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