#55 | Die Untertanenbitte

In vielen Staaten gibt es ein Petitionsrecht, auch bei uns. Doch was haben Petitionen mit Demokratie zu tun? Die Antwort überrascht.

Ausgabe #55 | 21. Januar 2021

Die Untertanenbitte

Es war einer meiner letzten Termine im vergangenen Jahr. Auf Einladung einer großen deutschen Stiftung konstituierte sich ein kleiner Think-Tank aus Demokratieforscher*innen. Er soll in den kommenden Monaten die Frage der „Messbarkeit von Demokratie“ erörtern.

Aktuell treibt ja viele von uns die Frage um, wie sehr die Demokratie tatsächlich weltweit in der Defensive ist und was von dieser Entwicklung nur „gefühlt“ wird. Wie kann man tatsächlich „messen“, wie es um die demokratische Kultur global (und insbesondere bei uns in Deutschland) bestellt ist?

Wir sammelten in unserem kleinen Kreis munter Indikatoren, waren kreativ. Da wir sehr unterschiedliche Hintergründe hatten, wurde die Liste schnell lang. „Wir waren in einem richtigen kollektiven „Flow“. Und ich gestehe, ich war schuld, dass der sehr abrupt endete. Und zwar mit folgendem Dialog:

„Petitionen“, schlug ein Kollege vor, „an der Zahl der Petitionen können wir Demokratieentwicklung ablesen.“

„Ja“, sagte ich.

„Die Zahl der Petitionen steigt,“ erklärte der Kollege, „das ist ein Indiz für mehr Demokratie.“

„Nein“, sagte ich.

Einige Anwesende runzelten die Stirn. Und bevor jemand etwas erwidern konnte, ergänzte ich:

„Eigentlich lautet die Antwort: zweimal nein.“

Gut. Der Flow war weg. Dafür begann eine lange, hitzige Debatte. An deren Ende waren wir uns zwar noch immer nicht alle einig, aber wir konnten unsere Sinne schärfen für die Frage: „Sind mehr demokratische Handlungen ein Zeichen für mehr Demokratie?“

Die kurze Antwort lautet auch hier „nein“. Die ehrliche Antwort lautet: „Es ist kompliziert.“
Darüber werden wir noch sprechen.

„Hass und Hetze finden auch Eingang in die Petitionen“
Marian Wendt Vorsitzender des Petitionsausschusses im Bundestag

Heute widmen wir uns aber zunächst dem eingangs zitierten Dialog. Fangen wir mit dem ersten „Nein“ an.

Die Zahl der Petitionen in Deutschland ist langfristig nicht wirklich gestiegen. Wir hatten in Deutschland im Jahr 1980 pro Tag 43 Petitionen an den Deutschen Bundestag, heute sind es knapp über 50. Da ist die Inflationsrate höher. Es gab ein Hoch Anfang der 2000er Jahre mit jährlich bis zu 22.000 Petitionen. In den vergangen Jahren war die Zahl der Petitionen tendenziell also eher rückläufig.

Registriert und bearbeitet werden alle offiziellen Petitionen beim Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages. Der berichtet auch jedes Jahr präzise, wie sich das Petitionswesen entwickelt.

Wir wissen deshalb sehr genau, dass sich der Charakter des Petitionswesen im vergangenen Jahrzehnt gleich mehrfach stark verändert hat:

Heute haben wir mehr Petitionen, die nicht nur von Einzelnen getragen, sondern von einer oft hohen Zahl von Unterstützer*Innen begleitet werden. Sind es über 50.000, dann haben die Petent*innen Anspruch darauf, ihr Anliegen persönlich vor dem Petitionsausschuss vorzutragen. Das schafft Aufmerksamkeit und ist also ein starkes Motiv zum „Unterschriftensammeln“.

Eine zweite Entwicklung ist die zunehmende Zahl von Petitionen mit tatsächlich antidemokratischem, rechtsradikalen und rassistischem Inhalt. „Hass und Hetze finden auch Eingang in die Petitionen“, stellt der Vorsitzende des Petitionsausschusses im Bundestag, Marian Wendt (CDU), fest.

Eine dritte Entwicklung ist zu beobachten – und die hatte den eingangs zitierten Kollegen zu seinen Äußerungen veranlasst: Dramatisch zugenommen hat die Zahl der „inoffiziellen Petitionen“, also das, was früher klassische „Unterschriftensammlungen“ waren, die aber nie in das deutsche Petitionssystem eingespeist werden.

So hat die Online-Plattform Change.org 2019 fast 3,5 Millionen Unterschriften unter 9.500 „Petitionen“ gesammelt, die sie selbst so nennt. Geschuldet ist die sprachliche Verwirrung überwiegend den amerikanischen Gründern der Plattform, im englischen Sprachraum hat „petitions“ eine andere Bedeutung als die deutsche „Petition“.

Doch selbst, wenn man diese Unterschriftensammlungen einrechnet, ist die Zahl der informellen und formellen Petitionen noch immer gering, verglichen zum Beispiel mit der ehemaligen DDR. Dort gab es auch eine relativ umfassende Petitionspraxis: Petitionen hießen dort Eingaben. Sie mussten binnen 4 Wochen beantwortet werden. Wurde die Frist nicht eingehalten, drohten dem Verantwortlichen Disziplinarmaßnahmen. Es gab pro Jahr ca. 60.000 bis 70.000 Eingaben, hochgerechnet auf die heutige BRD also circa 30 Mal so viele.

Niemand käme auf die Idee, daraus zu schlussfolgern, in der DDR hätte es deshalb mehr Demokratie gegeben als in der BRD.

Die schiere Zahl der Petitionen ist also kein Indikator für Demokratieentwicklung. Und das ist auch kein Wunder. Denn: Petitionen sind keine Option, die Demokratien vorbehalten ist.

Petitionen kennen auch Monarchien, sogar Diktaturen. Die „Untertanenbittschrift an den Herrscher“ ist tatsächlich etwas, was zum Beispiel die antike attische Demokratie nicht kannte, sondern erst die römischen Kaiser als „petitio“ einführten.

Das Wesen der Petition ist historisch etwas, das gar nicht zur Demokratie passt: Nur Monarch*innen und Fürst*innen hatten – wie für die Zeit des Absolutismus kennzeichnend – die Macht, selbst rechtskräftige Urteile der Gerichte aufzuheben.

Angebot, Umfang und Nutzung von Petitionen sind also kein Gradmesser für Demokratie.

Was sind sie dann?

Sie sind tatsächlich ein Gradmesser für die Bereitschaft zur Artikulation von Unzufriedenheit. Der Petitionsausschuss des Bundestages erlebt es täglich: Heute laufen dort Petitionen mit Meinungen, Forderungen und Positionen auf, die vor wenigen Jahren noch kaum jemand öffentlich artikuliert hätte. Heute traut man sich nicht nur, sie zu äußern, sondern auch massiv, öffentlich – und erfolgreich – Sympathisant*innen dafür zu suchen. Übrigens ein Problem, mit dem auch diverse Online-Plattformen zu kämpfen haben.

Petitionen, insbesondere die informellen digitalen Unterschriftensammlungen, sind also tatsächlich heute eher ein Kampagnenwerkzeug als eine „Eingabe an die Herrschenden“. Von manchen Akteuren werden sie geradezu meisterhaft inszeniert.

Verstehen wir uns nicht falsch: Diese Nutzung des Petitionswesens ist demokratisch völlig legitim. Auch für undemokratische Positionen. Nur eines ist diese Entwicklung nicht: ein Beleg für mehr Demokratie.

Sie ist kein quantitativ nützlicher Indikator, eher ein qualitativ interessantes Brennglas, das uns zeigen kann, wie und wie weit unsere Gesellschaft gerade auseinanderdriftet.

Deshalb lohnt es sich, die Entwicklung im Petitionswesen und auf digitalen Kampagnenplattformen genau zu beobachten. Das Zählen von Petitionen lohnt sich eher nicht.

Das Messen von Demokratie ist eben komplex. Genauso komplex wie die demokratische Kultur an sich.

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